: Über uns: nur der Himmel
Das religiöse Amerika wird die nahende Präsidentschaftswahl in den USA entscheiden. Doch auch das konservative Lager zeigt sich im religiösen Kulturkampf gespalten
Auch bei diesen „Duellen“ über drei Runden blieb niemand tot liegen: Weder George W. Bush noch John F. Kerry haben sich unmöglich gemacht. Es hatte aber auch keiner von beiden eine Sternstunde, und der Herausforderer konnte sich in den Umfragen danach nicht so weit vom Amtsinhaber absetzen, dass dessen Wiederwahl gefährdet erscheint.
In nüchterner Beurteilung der innen- wie außenpolitischen Fakten, die auf dem Tisch liegen, müsste dessen Wiederwahl das aber sein: Es ist mittlerweile offiziell, dass kein einziger der angegebenen Kriegsgründe einen Feldzug gegen den Irak rechtfertigte. Amerikas innere Sicherheitslage hat sich nicht verbessert, der Krieg im Irak und auch in Afghanistan haben al-Qaida gestärkt. Die Bereitschaft und Fähigkeit des westlichen Bündnisses, in anderen Krisenherden gemeinsam zu intervenieren, hat abgenommen. Amerikas Ansehen hat durch Folter(fotos) und massive Verletzungen des Völkerrechts weltweit Schaden gelitten, das Versprechen eines demokratischen Dominoeffekts in der arabisch-islamischen Welt bleibt eine Schimäre.
Auch in handels-, rechts- und umweltpolitischen Angelegenheiten steht Amerika allein da – zum Nachteil der US-Wirtschaft, der Situation der Menschenrechte und des Weltklimas, und laut Umfragen sogar gegen den Willen der meisten US-Bürger. Sozialpolitisch hat sich nach offiziellen Statistiken die Situation der Armen wie des Mittelstandes in den letzten vier Jahren weiter verschlechtert, verbreitete Kinderarmut ist der zum Himmel schreiende Skandal dieses superreichen Landes. Der amerikanische Arbeitsmarkt hat trotz Aufschwung nicht an Fahrt gewonnen; nie seit der Weltwirtschaftskrise sind binnen einer Amtsperiode so viele Arbeitsplätze vernichtet worden, und das gewaltige Handels- und Zahlungsbilanzdefizit belastet die Weltwirtschaft enorm. Die Überschüsse der Clinton-Jahre haben sich in eine nie da gewesene Verschuldung der Staaten und Gemeinden verwandelt, öffentliche Dienste, darunter Schulen und Kulturleben, liegen danieder.
Wenn eine Wahl also vor allem eine Abrechnung über Leistungen und Versäumnisse der vergangenen Amtsperiode wäre, müsste Bush junior das Schicksal seines Vaters ereilen. Denn wirklich zufrieden können nur die oberen fünf Prozent sein, die erneut massive Steuergeschenke bekommen und weitere in Aussicht gestellt bekommen haben.
Auch wenn Mainstream America in die Zukunft blickt, hat Bush keinen überzeugenden Plan, wie seine Administration das Irak-Desaster bereinigen, den Terror stoppen, die Mittelost-Region befrieden und andere Krisenherde in Asien und Afrika ersticken will. Und sozialpolitisch setzt er in einem Maße, die sich Hartz-IV-Geschädigte nicht entfernt ausmalen können oder wollen, auf Eigeninitiative und Selbsthilfe, und auf die Wirkungen religiöser Mildtätigkeit.
Bush und seine Mannschaft stört nicht, dass der Staat handlungsunfähig geworden ist – es ist, in der Linie ihres Vorbilds Ronald Reagan und der konservativen Revolution, das erklärte Ziel ihrer Politik. Dahinter steckt ein klares politisches Ziel: Die Republikaner wollen den Boden austrocknen, auf dem „demokratische“ Wohlfahrtsstaatlichkeit gedeihen kann, und damit den Trend stoppen, der mit der Zunahme der hispanischen Bevölkerung und der Geschlechterkluft eine strukturelle Mehrheit für die Demokraten erwarten lässt.
Bei TV-Duellen zählen jedoch telegenes Auftreten, Sympathie und Charakter. Diesbezüglich hat Bush seine Basis im „roten Amerika“ (der Republikaner) voll zufrieden gestellt. Diese ist durch und durch religiös geprägt – und dabei mehr und mehr durch evangelikale Positionen, die eine ideologische Polarisierung nicht über Sozialstruktur, Milieu und die „Brot und Butter“-Fragen herstellen, sondern über weltanschauliche Fragen.
Es handelt sich bei dieser religiösen Basis um eine von Bush perfekt verstandene und bediente Klientel, die charismatische Erweckungserlebnisse sucht, den Bibeltext wörtlich als Skript für den Alltag auslegt und den Endkampf gegen das Böse eingeläutet sieht.
Die konservativen Katholiken, die etwa im „battleground state“ Ohio eine strategische Rolle spielen, sind massenhaft zu den Republikanern gewandert, und auch bei den Hispanics wächst die Zahl der Evangelikalen und born-again-Christians. Die christliche Rechte hat sich aus einer Sperrminorität in der „Grand Old Party“ in den religionsübergreifenden konservativen Mainstream verwandelt.
Europäische Beobachter tun solche spirituellen Anwandlungen des „Bibelgürtels“ gerne als irrational und antimodern ab. Dabei zeigt sich hier einfach eine andere Form reaktionär-moderner Rationalität. Doch findet in den USA nicht nur ein Kulturkampf zwischen Agnostikern und Fundamentalisten statt – es verläuft auch ein Riss quer durchs religiöse Lager: Gläubige, die in Sachen Abtreibung, Homoehe und Alltagsmoral konservativ sind, lassen bei Krieg und Sozialversicherung, Budgetdisziplin und Bürgerrechten Vorsicht walten und missbilligen das forsche Vorpreschen des Präsidenten gegen die Homoehe, weil es auf eine Verfassungsänderung hinausläuft.
Viele Beobachter haben die Demokraten davor gewarnt, sich auf Atheisten, Agnostiker und militante Säkularisten zu stützen, deren Anteil von einzelnen Instituten auf fast 30 Prozent der US-Bevölkerung geschätzt wird, und die gemäßigt Religiösen rechts liegen zu lassen. Bemerkenswert ist nämlich die Differenzierung des religiösen Lagers, in dem Traditionalisten aller Konfessionen nach rechts tendieren, die Moderaten hingegen eher demokratisch votieren und die große Gruppe von Zentristen als wichtigste „swing constituency“ quer durchs Land gilt.
Bush ist vor vier Jahren unter dem Motto angetreten: Nur der Himmel ist unsere Grenze. Man darf nach vier Jahren Bush-Administration überzeugt sein, dass der Präsident und seine Partei bei einem Sieg (der gar nicht knapper als beim letzten Mal sein kann) „durchstarten“ werden und die konservative Revolution vollenden wollen. Innenpolitisch heißt das „zurück nach Altamerika“ und für den Rest der Welt, dass der „Kampf gegen den Terror“ eskaliert. Die Atommächte im Iran und in Pakistan erfüllen alles, was Bush dem Irak vorgeworfen hat. Genau darauf zielte seine Einlassung, er habe richtig gehandelt, und Cheneys Ankündigung, er würde genauso wieder handeln.
Zu stoppen ist der Höhenflug nur durch einen protektionistischen Rückschlag, der sich in rechtsintellektuellen Kreisen bereits andeutet. Der neokonservative Internationalismus würde einem isolationistischen „Amerika zuerst!“ Platz machen. Ist das die Rolle, die Präsident Kerry noch immer sucht?
CLAUS LEGGEWIE