: & zeitlese mich her, tazwahr. Täglich
VON JOSÉ F. A. OLIVER
: es mag verwegen sein, wenn nicht gar zu viel der schöpferischen Passion, schon als Kopfzeile dieses Textes die gemeinhin zu Recht eingeforderte Nachvollziehbarkeit eines Beitrages zu irritieren & mit einem durchaus kühnen Sprachgebilde anzuheben, das für eine Lese-Verwirrung ins Ungereimte sorgen könnte – vor allem dort, wo es um einen Zeitungsbeitrag geht. Ein Beitrag, der doch in seiner kommunikativen Absicht eher das Gegenteil bewirken & die viel beschworene Flut an Information entwirren sollte, indem er Punkt Strich Komma Absatz & alle anderen Schreibregeln respektierend, in kurzen, zumindest kürzeren Sätzen spricht, 1 Zutat einladender Ansprache & 1 Ausgewogenheit durch Sprachauswahl & den Inhalt streut & ganz bestimmt auch dies zu fördern hat: die Übersicht. Bei mir verursacht die Zeitungslektüre jedoch meistens eine Reaktion, die spielt mit dem, was ich da lese, & ich finde selten 1 Anfang & 1 Ende
1 Verbkompositum zu Beginn dieses Schreibversuchs also, das es nicht gibt, & 1 Beiwort, das letztendlich erfunden werden müsste, stünde es – noch unausgesprochen zwar – nicht schon längst & nicht mehr wegzudenken im Raum wie 1 Kurzmeldung, 1 Satz, der mit einer unglaublichen Enthüllung aus dem News-Ticker rauscht, in letzter Minute einen der begehrten, reservierten oder frei gemachten Druckplätze in der aktuellsten Ausgabe erhält, die Eilmeldung dadurch fast noch hörbar macht & gerade deshalb den neugierigen Menschen seelenfüttert
seine umtriebige Lust befriedend, spekulativ & kritisch, jeden Tag 1 Mehr an Wissen zu entblättern, sein offenkundiges, aus den Schlagzeilen abzuleitendes Begehren, im Kuriosen Wunderfitzigen Unerwarteten zu stöbern nachzuhaken aufzuhorchen & über einen Alligator (oder ähnliches Getier) zu stolpern, der sich wie 1 Hund 1 Katze oder 1 verschlucktes Telefon zum Scheidungsgrund samt Körperverletzung gemausert hat; oder das pflichtentraurige Gesicht in demjenigen des strahlenden Lottogewinners zu spiegeln, in dessen Vernunft oder Unvernunft; oder sich einfach nur in gewohnter Sicherheit zu wiegen (hierzulande), um sich in ihr, wo immer besagter Zustand auch zu orten wäre, vorzustellen, was unvorstellbar ist & weit, weit fort. Bedrohliche Gefahren Schrecken. Angst, die es abzuwenden gilt. Terror Überschwemmtes Hurrikane Erdrutschsiege & immer wieder doch 1 Retter in der Not, der sich auch dort aufhält. Dazwischen Zeilen, die unumstößlich sind, unabhängig davon, was zu hören war, zu sehen riechen. Auch das
1 Freundin, die längst vom Geheimdienst gekauft war, den Mund ständig an der Bahre & die Frage von Gehirn & Eigentum Hunger Elend Durst etc. & ganz ohne Sarkasmus: den Abreißkalender einer möglichen Aufzählung kennen Sie ja selber zur Genüge, dies Kompendium aus Raritäten & haltbaren Gültigkeiten
artikelwärts
eintauchen oder abtauchen ins Alltägliche der Nachrichten Berichterstattung Hiobsbotschaften ins Vorgeahnte Gewusste Bestätigte oder 1 nichtalltägliches Feuilleton lang durchatmen, dem Ereignisbann entkommen & aus dem Gesagten schöpfen, Wörter schöpfen & Klärung bilden, 1 Dahinterblicken 1 Meinungsstütze Ruhe 1 Verlangen Klarheit
1 Inspiration & deren Energie aus dem Geflecht der Unruh, die fortbesteht & die auch ich nur allzu gern enträtselt hätte. Das Perpetuum der Not im Griff
1 Nachdenken darüber, was 1 Furioso sein könnte, 1 Meisterwerk Melodik Harmonik Kontrapunkt & Form 1 leiser Ton, der alles sagt im Chaos
1 Missgeschick 1 Unfall Katastrophen 1 Kompromiss & Krieg Verhandlungen & Hoffnungszeichen. Das Für & Wider & das Warum Weshalb Ach so & Was nun ? –
ständig unterwegs & ständig auf der Suche – so könnte 1 Motiv der Vorliebe, eigentlich Lust, bezeichnet werden, die mich zum leidenschaftlichen Zeitungsleser hat werden lassen
aus den Zeilen treten hineinzustapfen SEIN, mitten unter ihnen, davor & danach. Bestimmter
die gültige Rechtschreibung Grammatik Verständigungsebene mit ihnen dehnend oder zusammenziehend & 1 Art Sprachakrobatik meisternd, die nicht mehr ganz im grünen Bereich liegt, die unglaublichsten Verrenkungen vorführt & kein Verschweigen der wesentlichen Dinge nahe legt, vielmehr anstachelt ins brüchig filigranere Wort, das vorsichtiger wird von Tag zu Tag & fragiler, weil die Lektüre jeder Zeitung 1 Seiltanz ist 1 Wand 1 Becken Sprungbrett Taumel. 1 Fluss, in den man stürzt & schwimmen lernt. Pathos hin & Pathos her, manchmal gar ums Leben
„Eres más embustero que el 7-Fechas“, pflegte Vater immer zu sagen, wenn ihm eine Geschichte nicht ganz geheuer vorkommen wollte, die ich mir als Kind zur Rettung manch unangenehmer Situationen ersann & die mir dann bald selber unglaubwürdig wurde. Ganz wie der Sog in eine gut erzählte Titelgeschichte, die alle zu interessieren hatte. „Deine Lügen übertreffen sogar die 7-Fechas!“ – so eine der möglichen Übersetzungen. Ich mochte den Ausspruch damals & hatte natürlich keinen blassen Schimmer davon, dass die 7-Fechas, das sei für den Unkundigen angemerkt, eine Zeitung im Spanien der Franco-Diktatur war, sprichwörtlich 1 Staatsdoktrin & alle systemtragenden Umgelogenheiten verbreitend, die es zu infiltrieren galt, anders gesagt: lateinisch-spanische Buchstaben auf kurzen Beinen, wie die Lügen selber, denen die ebenfalls sprichwörtlichen Gliedmaßen – längerfristig betrachtet – ja auch zu kurz geraten sind. Die Presse lehrt es
was eine Zensur, die Zensur bedeutet, wurde mir erst in späteren Jahren einsichtiger, als ich von einem Antiquar eine Feldpostkarte erwerben konnte, deren Absenderangabe lediglich das furchtbeladende Wörtchen „Kriegsgefangenensendung“ preisgab – datiert im Juni 1916 – & von deren Mitteilung nur noch die Anrede zu erkennen war: „Lieber Bruder“. Der Rest 1 Schwarz. 1 schwarzer Balken & die Fantasie, die Vorstellungskraft, die sich beim Betrachter urplötzlich einstellte & die das innere Geschichtsbuch zu öffnen weiß, wo verschwiegen wird verboten & 1 Mundtotes ist
man liest sich immer mit. Nicht eine Meinung war gewünscht – so will es die Postkarte, die heute noch auf meinem Schreibtisch steht, mich lehren – nicht eine Sicht der Verhältnisse, die man sich kritisch bilden könnte, sondern 1 Meinung, die eingestampft zurechtgestiefelt verstümmelt zu sein hat(te). Fatale Entgleisung. Bis dato wurde ich von dieser Art Zensur verschont. Es möge so bleiben
ich zeitlese mich also her oder tazlese mich ein, 1 Zeitung lang & in diesen Artikel
so nehme ich mir denn vor, beileibe und bei Kopfe, mit diesem Text nicht informativ zu sein, geschweige denn Argumente anzuführen. Das überlasse ich denjenigen, die etwas davon verstehen, ihr Handwerk von der Volontärs-Pike auf gelernt haben oder aber unter jenen wenigen Naturtalenten auszumachen sind, die sich in einer Reportage herschreiben wie andere in einem Gedicht
Journalisten Reportern Kommentatoren Meinungsmachern Kritikern Rezensenten
& will die bloße Aufzählung (verzeihen Sie die Kürze!) auch gleich schon wieder unkommentiert verlassen, nicht jedoch, ohne meinen Respekt zu erwähnen. Den, der mir im Laufe meines bisherigen Leselebens zu Eigen wurde, angesichts all der unvergleichlich guten Kunst des Schreibens, der bewundernswerten Berichterstattung ins Mutige, die im Wort steht, Wort hält & die ich täglich mitverfolge
1 Respekt vor all denjenigen, die sich nicht zufrieden geben mit dem Dargestellten & Weiterbohren; oder vor den anderen, die in einer Kolumne mit klaren Worten auf den Punkt bringen, was ich gar nicht so klar sehe, & mir eine gelungene Glosse wie einen augenzwinkernden Merkzettel in den Tag mitgeben, den Gedankenschatz mit einem schelmischen Lächeln bereichern, hie und da die Zitierfähigkeit zwar dennoch strapazieren, aber nichtsdestotrotz die Widersprüchlichkeit der Zeugenschaft erträglicher machen
& werde wortkreativ durch sie alle. Denn es gibt etwas zu enträtseln: den Großdruck Kleindruck Dünndruck der Gefühle: das Herz als vernünftiges Auge, den Kopf als empfindende Seele
2 die mich im Insgeheimen betreffen: den Zeitungslesenden. Denjenigen, der immer noch liest & sich nach wie vor gern dem Geschriebenen der Tagespresse anvertraut, auch wenn nichts so „alt“ zu sein scheint wie die nachgeschobene, vergänglich-präsente „Zeitung von gestern“; die Nachricht, die sich vielleicht schon längst überholt hat; vielleicht schon, wenn 1 Text verfasst wird & Annäherung nur ist, was machbar scheint
1 Komplize folglich der Vorüberheiten. So begegnet mir das Leben. So bestätigt es mir die zusammengerufene Welt in den Artikeln Novitäten
1 Komplize im Widersprechen, Zuspruch, Einvernehmen & ich stelle mir vor
die taz zum Beispiel, als 1 Möglichkeit, dem Text, den Sie bis hierher gelesen haben, doch noch beizukommen & ihm eine Struktur zu geben, einen Rahmen
& könnte 1 Inneres, eine zufällig gewählte Ausgabe studieren & mir 1 roten Faden geben in diesem Beitrag, um die tägliche Lektüre der Zeitung zu verteidigen, ohne dass mir das beim hehren Anspruch, den ich an die „MacherInnen“ stelle – & so ganz ohne verbindliche Recherchen –, anstünde, wohl aber, weil ich die Ratschläge in mein eigenes Schreiben wieder einmal nicht befolgen will & mir vorgenommen habe, 1 „Zeitung an Gedanken“ herzuschreiben
assoziativ & ungeschützt. Als gelte es, die Gedanken-Anthologie um & für das Lesen einer (Tages-)Zeitung auch einfach irgendwo aufzuschlagen im Sammelsurium der Gründe, die es gibt & gäbe, um sie an anderer Stelle, im nächsten Absatz weiterzuspinnen loszulassen zu entkräften festzulegen auf 1 Neues. Die behütetere Form, sich in ins Offene zurückzulehnen & auf Reisen zu gehen
Kultur & Politik Gesellschaft Wirtschaft aus & in die Welt 1 Wörterbuch der Medizin Sport Science & Fiction Fülle – die Ebenen vermischen, die sich in Nachbarschaft empfehlen, & Leserbriefe Inserate Arbeitsmarkt, die Werbung immer wieder – auch diese Reihenfolge wie willkürlich
als gelte es, nach einem Satz, der unverhofft die Aufmerksamkeit auf sich zieht, einfach zu springen in den nächsten Gedanken, von dort aus in einen weiteren & anderen Artikel; 1 Text, der mich ebenso anfällt wie der zuvor ertappte, & hier 1 Wort, das es aufzuschnappen gilt, dort wieder 1, schließlich nachdenklich werden grinsen grübeln innehalten ob der Verwunderung & seltsam hergewürfelten Konstellationen einprägsamer Überschriften Aussprüche Zitate, ob des Hergeleiteten. Korrektur um Korrektur
Satz um Satz, mich um die Titel bringen, dessen, was ich weiß; ja
die Gedanken, die um die Zeitung kreisen, führen Ungewöhnliches in den Sinn & provozieren mich ins Neu & Querzulesende der Schrift. Wo es doch für viele darum ginge, 1 Gewohntes 1 Verlässliches zu berichten vom Reiz einer kleinen, großen Obsession & von der „Grammatik eines Tages“, die kaum greifbar beim nächsten (Ab-)Satz, beim nächsten Wörterwink bereits in 1 Gewesenes 1 Gestriges vermündet & diese Aufgabe auch textlich, will sagen, dies Unterfangen auch stilistisch einwandfreier zu berücksichtigen
man sehe es mir nach (oder auch nicht). Ich überlasse es Ihnen, die sich auf das Wagnis eingelassen haben, diesen Artikel mitzugehen, manche Interpunktion zu setzen, hie und da ein Bild oder 1 Gedanken zu verwerfen, umzugestalten oder diese Skizze einfach nur beiseite zu legen
es gibt ja von allem etwas & diejenigen, die nur den Wirtschaftsteil aufschlagen. Das sei ebenfalls benannt
& die der Politik Kultur & deren Verzichter
& die, die lauter lesen, sich dahinter verbergen oder sich auf die nächste Folge, das nächste Kapitel, den Fortsetzungsroman freuen, vielleicht Rezepte sammeln Horoskope Kontaktanzeigen
& diejenigen, die sich die Heimatzeitung abonnieren, zusätzlich & weil die Todesanzeigen zum Ort gehören wie Vereine, die sich feiern, oder Betriebs- & sonstige Jubiläen
& die, die Fußballbilder suchen, den verschossenen Elfmeter, die Fehlentscheidung den Klatsch danach die Prunkhochzeit 1 Allgemeines im Besonderen & 1 Adelung in Sprache, die 1 Schnappschuss ist
& die, die sich das Börsenfieber kaffeefärben & Index Dachs & Wallstreet-Seiten. Nicht nebenbei so tun infarkten zocken
& die Verwahrer Sammler Artikelschneider Morgenleser
& die, die sich im Interview vergnügen ärgern finden selbst erheben
usw. Gott sei Dank. Es gibt sie alle & viel mehr. Ach, Sie wissen’s doch:
allein die tägliche Portion Neugier & darauf gespannt sein zu dürfen, was ist, was war, scheint Grund & Erklärung genug ins Lesen
der zunächst sorgfältig offene, umher- & abstreifende Blick; das unüberschaubar eingebrachte Mosaik aus Wörtern & Sätzen – Bruchstücke allenthalben – verführt ins Experiment des Denkens Fühlens. Schier zufällige Bedeutungsfetzen, die sich das Auge herholen und einverleiben. Als säße man an einer belebten Straße im Café und beobachtete die Passanten
Wortgänger, auch dieser Begriff sei erlaubt. Sie (be-)drängen den Verfasser dieser Notiz über die alltägliche Notwendigkeit des Zeitunglesens geradezu, ins Unübersichtliche dieser Liebeserklärung loszuschreiben, um sich alsbald wieder davon zu überholen wach zu rügen & sich ein wenig zu entzingeln sich sortieren. Wie die Fülle an Berichtetem selber, die es in irgendeiner Form in jeder aufgeschlagenen Zeitung nachzufassen heißt
die losen Blätter dann doch sinnlösend („1 Lösung im Sinn“) wieder ins unvermutet Zusammengehörige des Unvereinbaren zu stellen
die losen Blätter also in der Hand, um fündig zu werden: So könnte eine Lektüre beginnen
die Absicht, fündig zu werden. Die Bereitschaft, sich auf 1 Wissen 1 Unwissen & Wagnis einzulassen. Immer ein wenig auf der Flucht dabei. Von Text zu Meinung 1 eigene Zeit, die bildentsteht ums Wort. Die Zeitung
trägt eine Druckerschwärze Flucht in sich: 1 Fliehendes
Zeit, die Zeiger wirft. Zeit, die aufgehoben wird. Wie sehr sie sich auch darum bemüht, von Artikel zu Artikel einen Anfang und ein Ende zu gestalten. Die Kontur der Zeitung ist das Fragmentarische des Fassbaren, & diese Stärke ist es, die berührt
& meint den Entwurf ins Weitere. Von Bericht zu Bericht, immer Fragen treibend in die ersehnten Antworten & welteinfangend die parallelen Züge des Erzählbaren & damit auch all dessen, was nicht in Sätzen sein kann, nicht ist & dennoch nacherzählt oder nachgeschrieben, was war, was wird dadurch
1 Illusion lang die Welt in (meinen) Händen. Vielleicht 1 Traum, irgendwann begreifen zu können, was sich ereignet hat & was im Augenblick geschieht. 1 Mindestmaß &
in Vorüberheiten im Vergleiten denken lernen. Schauplätze & ihre Stichworte einholen wie Segel, um 1 Tag lang auszuruhen. Unaufgeregt
& immer wieder Bilder Bilder Bilder, die sich lichten
Sprech & Sprach-Fotos. Davon die Vorstellung. Darin das eingeblendet Ausgeblendete
Ereignisse, die ungehört sind, unerhört. Klug gescheit & dumm (vermeintlich) – es dürfte gar nicht anders sein: aufwühlend & versöhnend zugleich
weil die Welt doch zu erlesen ist. Mit dem eigenen Leben oder jenseits aller Erfahrungen
für ein paar Augenblicke Minuten Stunden, wenn es denn die Anderzeit erlaubt, Lese-Gast zu sein, um das Verschriftete schließlich wieder zu verlassen & am nächsten Tag zurückzukehren in die Genauigkeit der Sätze: die flüchtige Genauigkeit von Zeitungen, sie ist es, die ich will – ein Ritual der ständigen Einkehr in die scheinbare Ordnung, die sich selber schafft
ich traue mir den Wahn zu, diese Neugier, die auch ich in mir weiß, jeden Tag (wie gesagt: wenn auch ohne Anfang & ohne 1 Ende) aufzulesen
& könnte schreiben über einen willkommenen Morgen, an dem ich ausgeruht und in wohliger Stimmung – erholsam – zum nächstgelegenen Kiosk gehe. An irgendeinem, mir vielleicht noch unbekannten Ort Brötchen kaufe & 1 Tageszeitung. Die Vertrautheit, die sich einstellt, eine schier intime Sicherheit des Fremden & im Fremderlebten. Die einzige wahrscheinlich
mit 1 Zeitung unterm Arm, den Brötchen, 1 Baguette vielleicht
& beide, die schmecken brotwarm & druckfrisch: 1 unberührtes
den Gaumen in der einen Hand fühlend & in der anderen die Nachrichtenschwere. So ungelesen leicht. Die mir die kleine und die große Unbekannte zusammenstaut nachreift aufbröselt, bisweilen mitzudenken weiß
1 Art zwiefacher Hunger, der gestillt wird, die Vorfreude darauf
& die Zeitung schließlich aufschlagen – so unangetastet augeinfangend, wie sie vor mir liegt – um mich mitnehmen zu lassen von den Zeilen, die das erste Auge entdeckt, oder aber 1 Kopfschütteln 1 Zustimmen & Fragezeichen, unnachgiebig
1 Vielfaches an Fragen & – wie 1 Halt – keine wirklichen Antworten, die Zutritt wären
& nachdem das Versammelte der allmählichen Orientierung weicht, doch die Uhr abstellen. Sich ganz den Ansichten widmen und den Schemen nähern. Als wären diese 1 Klärung der ungeahnten Welten: 1 Menschen-Geografie selber. Die erste Seite die zweite dritte
& sofort wieder vergessen, was war, was ist. Dafür
mit einem veränderten Blick den Tag bebildern, ihn durchblättern, auf-
lesen:
nachrichten brennpunkt reportage inland wirtschaft umwelt ausland meinung und diskussion kultur leibesübungen
& die wahrheit: 1 flimmern und rauschen
1 Wetter
ich schaue aus dem Fenster & sehe Frau Metzger Frau Müller 1 Hackbeil das Brot – eine unglaubliche Verbrecherserie erschüttert ganz Deutschland … könnte da stehen
& wieder zurück zur Politik & weiter in die Wirtschaft, das Feuilleton
& die, die stürzen, & die, die diesen, jenen Sturz mit vorbereiten, & die, die ihn dann nachbereiten, & die, die den nächsten schon vorweggenommen zubereiten, & immer wieder auf 1 Neues, & buchstabiere dennoch das Wörtchen „bereit“
bereit weiterzulesen HEUTE
jemand, der schreibt heute und meint gestern & morgen wieder HEUTE & die Zeitverschiebung, die notwendig ist & morgen mehr. Vielleicht auch weniger
neue Landkarten Namen W:orte & lerne Nadschaf Tschetschenien Moskau Peking Athen London Istanbul & Reuters & all die Namen, die austauschbaren die verinnerlichten vergessenen & die, die ich noch weiß, & nur der Zeitpunkt der Tag die Woche Monate die Jahre, die geflohen sind & bleiben & verrinnen, & bleibt 1 Zeitungsatlas, unerschöpflich. Die Liste
ist 1 Ausfransendes
& was sein muss & nicht sein muss; was siegt & was letzten Endes doch verliert. Wörter & noch mehr Wörter wie Menschen Menschen Menschen
um mich zu fragen, ob ich mehr weiß
danach.
Der Mexikaner, las ich jüngst irgendwo, vergesse niemals, dass er sterben müsse. Darum liebe er Gebäck und Zuckerwerk, das den Tod darstelle. So räche er sich am Tod: Er isst ihn auf. Solange ihm das gelänge, könne sich der Tod noch nicht daran machen, ihn zu verschlingen. Außerdem sei der Tod zu Lebzeiten mitunter ein durchaus gutes Geschäft: für die Erben … und natürlich für die Sarghändler …
diese Sätze brachten mir 1 Erinnerung zurück. Die Erinnerung an meinen ersten Spaziergang in den Straßen von Mexiko-Stadt. Das war 1998. Ich hatte am frühen Morgen 1 Kiosk aufgesucht & kaufte mir dort 1 Zeitung, La Jornada. Ich trug sie den ganzen Tag wie 1 Verbündete unterm Arm. 1 Zeitung als Stadtplan in die zu bewältigende Größe dieser Megalopolis, die ich bis heute nicht verstehe. Wie selbstverständlich allein & promenierend & doch begleitet. Als gehörte 1 Zeitung zum unverzichtbaren Outfit des Urbanen. Ich war fast ein Einheimischer. Zumindest einer, der etwas Heimisches an sich hatte und sagen konnte: So unbedarft bin ich hier nicht. Als wär’s 1 Satz in allen Sprachen, den 1 Zeitung schenkt. Selbst ungelesen
… 1 Sicherheit übrigens, die mir auf Reisen immer wieder wird & die ich leider nie in dieser wortbewussten Form empfinde, wenn ich in einem Land bin, dessen Sprache ich nicht spreche. Die Zeitungen schaue ich mir dann dennoch gerne an & versuche etwas zu entdecken, was mir bekannt sein könnte. Aber das ist eine andere Geschichte