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Archiv-Artikel

Diesseits der Stille

Im Rahmen des Metropolendialogs Berlin–Buenos Aires sind Künstler nach Berlin gekommen, um über die Krise in ihren Städten zu reden. Was sie stattdessen fanden, war Stille, Zeit und viel Raum

NOTIERT VON UWE RADA

Ich bin gleich nach meiner Ankunft in Berlin losgegangen, weil ich meine ersten Eindrücke der Stadt fotografisch festhalten wollte. Ich habe mir Menschen gesucht, von denen ich dachte, sie haben eine Geschichte zu erzählen. Dann habe ich sie gebeten, mir etwas von sich und ihrem Leben in der Stadt zu erzählen. Ich war sehr überrascht, dass sich jeder für mich Zeit genommen hat. Eine Frau hat sich sogar hingesetzt und einen ganzen Text für mich geschrieben. Von 15 Menschen, die ich gefragt habe, hat nur einer Nein gesagt. Das hätte es in Buenos Aires nicht gegeben, da ist jeder mit sich selbst beschäftigt. In Berlin dagegen ist es so still, so ruhig, die Menschen sind offen, das hat mich sehr überrascht. Ich habe dann die Leute fotografiert und auf ein anderes Foto eine Zusammenfassung dessen, was sie gesagt haben, montiert. Von der Krise, die in Buenos Aires überall spürbar ist, hat hier keiner gesprochen. Natürlich, die Mieten sind hoch, die Preise gestiegen, aber Krise? Jeder schien mir auf seine Weise zufrieden. Das hat auch mit der Atmosphäre von Berlin zu tun. Hier ist viel Zeit. In Buenos Aires schließe ich mich manchmal in meinen eigenen vier Wänden ein, weil ich den Lärm und die Hektik sonst nicht ertrage. Ich bin halt jemand, in dem sich die Melancholie des Rio de la Plata und israelisches Blut mischen.

SEBASTIAN FRIEDMANN

Die Stille in dieser Stadt hat mir am Anfang sehr viel Angst bereitet. Ich bin Städte mit viel Lärm, mit viel Aktivität gewöhnt, mit Menschen, die die öffentlichen Plätze bevölkern und sie besetzen. In Berlin hatte ich den Eindruck, dass es hier überhaupt keine Menschen gibt, dass sie die Phantome ihrer eigenen Stadt sind. Das war mein erster Eindruck nach meiner Ankunft. Später hat sich mein Bild von Berlin dann verändert. Ich habe gemerkt, dass Berlin eine Stadt ist, in der man sich sehr sicher fühlt. Zum Beispiel bin ich einmal nachts über den Alexanderplatz gegangen, und ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, dass ich aufpassen müsste, dass mir etwas passieren könnte. Berlin ist aber auch eine Stadt der Geschichte, eine Art neuronaler Knoten im Nervensystem des zwanzigsten Jahrhunderts. Von hier gingen zwei Kriege aus, hier begann der Versuch des real existierenden Sozialismus, und hier begann sein Fall, Berlin ist eine Stadt der Geistes- und Kulturgeschichte. Das steht für Berlin und natürlich auch, dass es eine Stadt an der Schnittstelle von Orient und Okzident ist. NANCY GARIN

Ich bin jetzt schon zum dritten Mal in Berlin. Was mich aber immer wieder fasziniert, ist die Tatsache, dass du in Berlin, egal wo du dich befindest, immer etwas von der Geschichte mitbekommst. Diese Stadt ist voller Geschichte. Und diese Stadt lebt ihre Geschichte auch, all diese vielen übereinander liegenden Schichten sind im Alltag präsent, sie liegen herum, man muss sie nur nehmen. An ihnen lässt sich ablesen, wie in dieser Stadt immer wieder die Widersprüche, aber auch die Utopien aufeinander getroffen sind und noch immer aufeinander treffen. Das betrifft auch die Teilung der Stadt oder das, was man von ihr noch sieht. Es ist vor allem das Design, an dem ich erkenne, wo ich mich befinde, das Ampelmännchen zum Beispiel. Was mir an Berlin aber auch auffällt, ist die Multikulturalität der Stadt. Ich frage mich aber, ob und wie diese verschiedenen Ethnien zusammenleben. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre das alles eine bunte Mischung. Wenn man etwas genauer hinschaut, sieht man auch die Trennungen, die es gibt. Aber all das vermischt sich wieder zu einem Geschmack der Stadt, in der du alle Facetten zusammen hast. Das ist wie mit dem Essen. Wenn du die einzelnen Bestandteile eines guten Essens auf die Zunge legst, kannst du sie jeweils einzeln identifizieren. Wenn du danach aber das Gericht isst, das aus diesen Bestandteilen besteht, hast du einen ganz neuen Geschmack, in dem all diese einzelnen Geschmacksrichtungen aufgehoben sind. Das ist der Geschmack von Berlin. GASTON MONTELLS

Ich fand Berlin zuerst merkwürdig, irgendwie komisch. Die Stadt ist sehr groß, viel größer als ich sie mir vorgestellt habe, bevor ich hierher gekommen bin. Auf der anderen Seite ist es hier nicht so eng, so dicht wie in anderen Großstädten. Ich wohne jetzt am Alexanderplatz und sehe diesen Ort, von dem ich weiß, dass es eine ganz besondere Bedeutung für die Bewohner hat. Einen solchen Ort haben wir in Buenos Aires nicht. Daran erkennt man auch noch die Spuren der Teilung. Ich glaube, es ist vor allem die Architektur, die noch von der Teilung der Stadt spricht, in manchen Stadtteilen weißt du einfach, dass du im Ostteil bist. Es sind diese Plattenbauten, diese weiten Räume, die für mich Berlin ausmachen. Und natürlich auch die Bewegung, die in diesen Räumen ist, diese ständige Veränderung der Stadt. Sie bleibt nicht stehen, das ist mir sehr vertraut, das kenne ich auch von Buenos Aires, wo ich ebenfalls im Zentrum lebe. Aber mit Veränderung geht natürlich auch viel verloren. Wenn ich mir das Leben auf der Straße anschaue, denke ich, die Leute haben weniger miteinander zu tun, als es in Buenos Aires ist. Aber das kann natürlich auch daran liegen, dass hier weniger los ist auf den Straßen. PIO TORROJA

Es gibt ein Spiel in Argentinien, das geht so: Wenn du derjenige bist, der verliert, musst du ein Schiff nehmen. Ab nach Berlin. Berlin ist also in den Augen dieses Spiels eine Stadt der Verlierer. Warum das so ist, weiß ich nicht, es ist aber so.

Als ich hierher kam, habe ich deshalb erst einmal meine Vorstellungen von dieser Stadt mit dem verglichen, wie sie sich mir dargestellt hat. Und zu meiner Überraschung habe ich festgestellt, es ist gar keine Strafe, nach Berlin zu kommen. Aber das war nicht alles an Vorurteilen, die ich hatte. Ich hatte mir auch vorgestellt, dass ich, wenn ich nach Berlin komme, eine sehr deutsche Stadt vorfinde, so wie Frankfurt oder München, das ich bereits kannte, mit sauberen Straßen und Flughäfen, alles ordentlich eben.

Als ich aber hierher kam, habe ich die Stadt für ihre Unordnung, ihr Chaos geliebt. Das hat mir Berlin sehr vertraut gemacht, schließlich wird ja auch Argentinien vom Chaos regiert. Es sind viele Leute auf der Straße, zwar weniger als bei uns in Buenos Aires, aber mehr als in Frankfurt und München. Manchmal sind die Ampeln ausgefallen, und das architektonische Bild der Stadt ist auch chaotisch, disparat. Das ist einfach herrlich, diese Anarchie. Man findet hier Plätze und Orte, die sind mal sehr spanisch, dann wieder sehr französisch, es gibt kein einheitliches Bild der Stadt. Das alles war mein erster Eindruck, meine Vorurteile wurden widerlegt. Dann ist mir auch wieder eingefallen, dass ich das alles ja schon kannte, bevor ich nach Berlin kam – und zwar aus dem Film von Wim Wenders, dessen Titel mir jetzt entfallen ist. Da sitzt ein Engel oben auf der Säule und schaut auf eine Stadt, die noch immer so ist, wie im Film, auch wenn inzwischen viel gebaut wurde.

Übrigens haben mir alle gesagt, wenn du nach Berlin fährst, Dario, musst du dich warm anziehen. Und was ist jetzt? Ich habe einen Pullover über dem anderen, und nun ist es mir zu warm. Aber diese Wärme hat auch mit den Leuten zu tun, die es lieben, miteinander zu reden und tiefgründige Gespräche zu führen, nicht so oberflächlich, wie man es sonst kennt.

DARIO PAPAGNO