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Archiv-Artikel

Sein eigenes Versuchskaninchen

Fast sieht man die Worte, bevor man sie hört: Michael Thalheimer stellt in seinem „Faust“ am Deutschen Theater in Berlin die Konzentration auf den Stoff wieder her und bringt die Tragödie eines Skeptikers punktgenau auf die Bühne

Kein Rausch, sondern ein Fest der Nüchternheit. Kein längliches Theater, sondern ein Faust, der es hinter sich bringen will. Kein Bühnenzauber, kein Auerbachs Keller, kein Hexenritt, nichts als Sprache. Aber Sprache, die man hört, so glasklar wie selten zuvor. Der „Faust“, den Michael Thalheimer am Deutschen Theater in Berlin inszeniert hat, bringt die Tragödie eines Skeptikers punktgenau auf die Bühne.

Am Anfang genügt die Wendung eines Kopfes, uns zu erschrecken. Ingo Hülsmann, der gleich den Faust spielen wird, steht vorne an der Rampe im Profil. Wenn er uns plötzlich ansieht, unten im Parkett, scheint das Theater jäh zu schrumpfen. Der Raum, der die Welt bedeuten könnte, ist noch verrammelt, von hohen Brettern an der Kante der Drehbühne, die in ständiger Bewegung ist. Unaufhörlich zieht sie hinter Faust vorbei; Chiffre des Weltentzugs, des Verlusts von Erfahrungs- und Empfindungsfähigkeit. Wie ein Vorhang, der unentwegt fällt und all die Felder der Erforschung des Lebens wegschließt, die durchquert und verlassen zu haben Faust die ersten Szenen lang beschäftigt.

Er ist unglücklich, eitel, arrogant, sarkastisch, aggressiv in seinen Klagen, erfüllt von Ekel gegen sich selbst und mehr noch gegen jeden, der sich nicht auf der Höhe seiner Negation befindet. In diesem Punkt, einer snobistisch zur Schau gestellten Superklugheit, die sich ins Handeln nicht verwickeln lässt, weil sie die negativen Folgen ahnt, trifft er ins Schwarze eines Intellektuellen-Dilemmas der Gegenwart: der distanzierte Beobachter, das Unglück seiner Teilnahmslosigkeit zur Pose stilisierend. Dieser Faust wirbt nicht um Sympathie.

Fast sieht man die Worte auf seiner Zunge, bevor man sie hört. Die gespannten Lippen, die schwellende Ader auf der Stirn: Michael Thalheimer stellt eine Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums wieder her, als säße man plötzlich mit schärferen Brillen und frisch durchgeblasenen Ohren im Theater. Die Stimmen sind wieder laut, ohne Mikroport. Hier wird nicht nur ein Klassiker entstaubt, sondern auch eine Theatersprache.

Viel gehörte, geflügelte Worte bleiben nicht bedeutungsschwer in der Luft hängen, sondern fließen wieder in den Kontext einer Eloquenz, die sich an sich selbst berauscht (Faust) und an sich selbst ermüdet (Mephisto). Den Schauspielern, so erzählten sie vorher, hat es viele schlaflose Nächte bereitet, durch diese vom Wiedererkennen verminte Sprache hindurchzumüssen.

Die Bühne, gebaut von Olaf Altmann, der Thalheimer schon oft die Instrumente der Konzentration geliefert hat, öffnet sich erst für die Szene der doppelten Verführung: Faust will Gretchen (Regine Zimmermann) verführen, Mephisto (Sven Lehmann) Faust zur Anteilnahme und emotionalen Verwicklung. Es gibt nur ein Requisit: ein Bett. Die Bühne wirkt jetzt erschreckend groß und hoch, jeder Sturz hat gleich die Fallhöhe wie von einer Kirchturmspitze. Die Schauspieler agieren in dieser Leere tapfer, mit jedem Wort dem Andrängen des Nichts eine klare Grenze ziehend. Indem er sie aller Krücken der Illusion beraubt und der eigenen Hilflosigkeit aussetzt, fordert Thalheimer seine Schauspieler heraus. Doch diese Anstrengung setzt Kräfte frei, der Druck übersetzt sich in eine Intensität der Figuren. Das wirkt wie eine existenzialistische Versuchsanordnung, die zum Stoff des Faust aber hervorragend passt. Denn letztendlich geht es auch innerhalb des Dramas um ein grausames Experiment, die moralische Unzulänglichkeit jeder Erkenntnis zu beweisen. Faust ist hier gewissermaßen sein eigenes Versuchskaninchen.

Bei dieser Inszenierung fragt man sich nie: warum? Michael Thalheimer hat viele der klassischen deutschen Dramen inszeniert, aber nicht immer war das Interesse am Stoff so klar. Nicht die mystische Dimension, nicht das in fremde Zeiten entführende Spektakel interessiert ihn – er schneidet diese Elemente des Dramas und seiner Rezeption ohne Verluste heraus. Was bleibt, ist die Falle, die Faust sich selber stellt und in der Mephisto eher ein willfähriger Spiegel der eigenen Gedanken scheint denn als Gegenspieler und Verkörperung des Bösen. Vor allem aber unterläuft die Inszenierung in ihrer Kühle das Klischee vom Pathos des Zweiflers als spezifisch deutsches Kulturerbe. Dieser Gestus, mit dem Schauspieler und Regisseure sich dem „Faust“ als Höhepunkt ihrer Karriere nähern; dieser Kult der quälenden Selbstbefragung, der den Blick auf das Drama durch den Blick in die Seelen der interpretierenden Künstler verstellt, er wird hier nur lässig gestreift. Ingo Hülsmann nimmt diesen Gestus gelegentlich auf und parodiert ihn, aber weil die Parodie nie die stärkste Farbe in seinem Bild ist, zerstört sie nicht das Ernstnehmen des Textes.

Die ironische Haltung gegenüber der Schauspieltradition und ihrer Besetzung des Textes schlägt bei Thalheimer nicht um in einen Zweifel am Stück und seinem Stellenwert. So ist sein Projekt, die Klassiker aus ihrem historischen Kostüm zu befreien und mit ihnen das Unglück der Gegenwart zu beschreiben, im Fall des „Faust“ besonders gut gelungen. KATRIN BETTINA MÜLLER