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Archiv-Artikel

Von Sibirien bis nach Berlin

Bei der Demo gegen Sozialabbau war viel vom Kasseler Bündnis zu hören. In Nordhessen haben sich Gymnasiasten und Berufsschüler zusammengetan

Man konnte ein neues Selbstbewusstsein spüren, einen Anflug von Stolz

aus Berlin CHRISTIAN SEMLER und ULRIKE WINKELMANN

War die Berliner Demonstration gegen Sozialabbau vom vergangenen Samstag nur ein ohnmächtiger Protest, nur eine klapprige Wiederholung der immergleichen Parolen, die das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit lauthals zu übertönen suchte? Oder war sie der Anfang von etwas Neuem, und, wenn ja, worin bestünde das?

Auffällig zunächst die gewerkschaftliche Prägung der Demo, die Präsenz nicht nur eines Jugendblocks, sondern vieler zumeist jugendlicher Betriebsgruppen quer durch den Demonstrationszug.

Im Jugendblock selbst war häufig die Rede vom Kasseler Streik der Schüler und Azubis, den ein im Rahmen des Nordhessischen Bündnisses gegen Sozialabbau tätiges Kasseler Jugendbündnis am 27. Oktober losgetreten hatte. Die Demo am Streiktag hatte immerhin 1.500 Teilnehmer auf die Beine gebracht. Die Parolen, Transparante und Flugblätter der Berliner Demonstration waren oft von einem etwas abstrakten und schematischen Antikapitalismus eingefärbt. Aber hinter dem Wutschrei gegen „das Kapital“ standen konkrete betriebliche Erfahrungen. Es geht um fehlende Ausbildungsplätze, die Weigerung der Unternehmer, nach der Lehrzeit reguläre Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die Drohung, die Anrechnungszeiten für die Ausbildung bei der Rente zu verkürzen, last but not least die drohenden Studiengebühren. In Kassel haben sich Oberschüler und Berufsschüler zu einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zusammengetan.

Werden sich solche Initiativen nach der Annahme der Agenda 2010 nicht in Resignation auflösen? Katharina Seewald, die in dem nordhessischen Bündnis aktiv ist, zeigt sich optimistisch. Sie meint, die Zeit der kurzfristigen Ad-hoc-Mobilisierungen sei vorbei. „Wir werden den Winter überstehen“, sagt Seewald – und dies, obwohl Kassel nach Meinung von gewerkschaftlichen Jugendkollegen „in Sibirien liegt“. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Veranstalter und aktuell Aktiven optimistischer sind als diejenigen, die sich schon länger und wissenschaftlich mit Protestformen und -bewegungen befassen. Der Berliner Bewegungsforscher Dieter Rucht erklärte gestern der taz: „Ich bin skeptisch, ob wir am Beginn einer neuen sozialkritischen Welle sind.“ Am Samstag sei der „linke und links-liberale Mainstream“ auf der Straße gewesen, und „die wollen nicht den Konservativen in die Hände arbeiten. Nur Linksradikale sagen: ist ja eh egal, wer regiert.“ Doch im Zweifel würde sich die derzeit protestierende Menge „für Schröder als kleineres Übel entscheiden“. Außerdem eigne sich das Thema Sozialreformen nicht zur Polarisierung: „Bei Verteilungsfragen geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Mehr-oder-weniger“, sagte Rucht: „Das ist nicht massenwirksam.“

Der Bewegungsforscher Christian Lahusen aus Bamberg zweifelt, dass die Gewerkschaften an die Seite der hauptbetroffenen Klientel, der Arbeitslosen, zu bringen sind. „Das hat in Frankreich Mitte, Ende der 90er-Jahre geklappt. Aber dort hat es eine ideologisch-systemkritische Klammer zwischen Gewerkschaften, prekär Beschäftigten und Arbeitslosen gegeben“, sagte Lahusen. In Deutschland seien die Gewerkschaften letztlich immer Vertreter der fest angestellten Arbeitnehmer.

Die Arbeitslosen selbst „sind denkbar schlecht mobilisierbar. Sie hoffen immer, ihre Situation gehe bald vorüber, und wollen dem Negativimage der Arbeitslosigkeit entfliehen.“

In Berlin fielen am Samstag viele harsche Worte gegen die Gewerkschaftsführung, speziell gegen den DGB-Vorsitzenden und seine Weigerung, die Berliner Demonstration zu unterstützen. Aber man konnte in den Sprüchen den Eindruck eines neuen Selbstbewusstseins spüren, einen Anflug von Stolz, 100.000 Menschen aus eigener Kraft auf die Beine gebracht zu haben. Die Haltung zu den Gewerkschaftsapparaten hat nichts mehr von der prinzipiellen Feindschaft früherer linksradikaler Tage. Sie folgt eher der Losung „Zwingt die Bonzen (mit sanftem Druck)“. Parolen und Flugblätter forderten einen 24-stündigen Generalstreik gegen die Agenda 2010.

Kein Fantasieprodukt ausgefeilter restkommunistischer Taktik, sondern das Resultat des Überschwangs und des plötzlichen Glaubens an die eigene Kraft. „Wir würden ja gerne mitmachen“, sagt ein Berliner Jugendfunktionär, „aber die Kollegen …“

Der Demonstrationsblock von Attac umfasste rund tausend Leute; natürlich war der kulturelle Unterschied im politischen Ausdruck, was Fantasie und Variantenreichtum angeht, gegenüber den anderen Demonstrationsblöcken augenfällig. Aber die Rechnung von Attac, für ein Bündnis zwischen Intellektuellen und Gewerkschaften einzutreten, hat nach dem letzten Samstag einige Pluspunkte auf der Habenseite.