: Mitten im Whirlpool, raus aus dem Leben
Schriften zu Zeitschriften: In der aktuellen Ausgabe von „Literaturen“ dreht sich alles um – ach! – die Liebe. Das „Schreibheft“ widmet sich dem lyrischen Werk Herman Melvilles
Bewegt man sich außerhalb von geschlossenen Weltbildern und Identitätsmustern, hat man es nicht mehr mit Gefühlen an sich, sondern nur noch mit ihren Interpretationsmöglichkeiten zu tun. Dafür gibt es dann immer etwas zu erzählen. Die Zeitschrift Literaturen hat in ihrer Oktober-Ausgabe das Thema Liebe zum Schwerpunkthema gemacht. Sigrid Löffler berichtet von ihrem Besuch bei der Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Deren neuer Roman führt das Wort „Liebe“ sogar als Titel. Aus dem Text hat Morrison es weitgehend getilgt. Nicht mit einem konkreten Zweck, sondern nur als Solitär auf dem Buchdeckel will Morrison das Wort noch benutzen.
In dem Buch geht es um eine Dreiecksgeschichte zwischen zwei verfeindeten Frauen und einem Mann, der als libidinöser Bezugspunkt über sie zu herrschen scheint. Morrison erklärt, wie sich ihre weiblichen Romanfiguren aus ihrer Fixierung befreien und Freundschaft schließen können: „In gewisser Hinsicht ist dieser Mann eine Erfindung der Frauen. Männlichkeit ist mächtig nur durch die Verehrung, die wir ihr um ihrer selbst willen zollen.“ Die eigenen Gefühle als einen interpretierbaren Text lesen zu können entfaltet emanzipatorisches Potenzial – jedenfalls, wenn man weiß, was einem nützlich ist. Löffler erkennt dahinter sowohl rassen- als auch genderpolitische Motive: „Es geht Morrison darum, die Scham über die eigene Geschichte zu überwinden.“
Wer sich der Interpretation seiner Gefühle verweigert, muss trotzdem immer darauf gefasst sein, von anderen interpretiert zu werden. Hanna Leitgeb hat sich mit Sachbüchern über die sozialen Funktionen von Liebe beschäftigt. Ihre Schlussfolgerung: „Die Liebe ist ungeheuer pragmatisch, zweckvoll für das Funktionieren von Gesellschaften (gerade auch, wenn sie unglücklich ist), und sie ist längst mit dem Kapitalismus eine Beziehung eingegangen.“ Je individueller romantische Liebesgefühle erscheinen, desto mehr zeigt sich darin eine Anpassung an gesellschaftlich-ökonomische Entwicklungen.
So lässt sich jedenfalls Sibylle Bergs abgründig trashige Handreichung für die Liebe mit vierzig lesen. Ihre Protagonistin schlägt sich mit jenen Wahrheiten herum, die man spätestens ab der zweiten Flasche Wein als unabänderlich erkennt: „Ab vierzig sollte keiner mehr allein wohnen, sonst wird man wunderlich.“ Zumal man sich noch bei innerer Fühllosigkeit mit seinen Freunden messen muss. Die haben Kinder und Häuser, „hatten erreicht, was sie erreichen wollten, oder waren gescheitert und hatten sich damit eingerichtet oder hatten Krebs“. Doch auch in der schweigend eingegangenen Beziehung mit Durchschnittsmann Bernd wird nichts wirklich besser. Mitten im Whirlpool wird das illusionslose Missvergnügen des selbstreferenziellen Denkens für die Protagonistin auch zur körperlichen Falle: „Sie wollte sich nie wieder bewegen.“
Ob es das ist, was Julia Schoch in ihrem Manifest beklagt? Schoch möchte keine Bücher lesen (und schreiben), deren Figuren sich in reiner Innenschau ergehen und „die sich nicht in irgendeiner Weise der Gegenwarts-Wirklichkeit widersetzen“. Sie meint auch zu wissen, woher das kommt: „Vielleicht entstammt dies noch meinem mentalen Gepäck aus dem Osten, … dass ich die Gegenwart … nicht als selbstverständlich betrachte, sondern als grundsätzlich angreifbar, als etwas, das sich herleiten und beeinflussen lässt.“
Das Schreibheft widmet sich dem in Deutschland weitgehend unbekannten lyrischen Werk Herman Melvilles und veröffentlicht in Auszügen die von Rainer G. Schmidt besorgte Übersetzung von „Clarel. Gedicht und Pilgerreise ins Heilige Land“. „Clarel“ erzählt von der Suche eines amerikanischen Theologiestudenten nach Erlösung von religiösen Zweifeln und materialistischer Sinnleere. Mit der zum Judentum übergetretenen Amerikanerin Ruth kommt dabei auch Liebe ins Spiel. Zuletzt wird Ruth zwar vom Fieber dahingerafft, doch ist ihr Tod für die geistige Reifung Clarels von ungleich höherem Nutzen: „Am Ende ist vielleicht nicht mal der Tod real / Und selbst der Stoiker kommt in den Himmel.“ JAN-HENDRIK WULF
„Literaturen“, Oktober 2004, 7,50 €Ľ„Schreibheft“, Nummer 63, 10,50 €