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Archiv-Artikel

Viel mehr Beine als Protagonisten

Trash und Glamour sind gefräßige Monster, die gefüttert werden wollen: Im Berliner HAU-Theater gibt die New Yorker Performancegruppe Big Art Group ihr Bestes und seziert Theaterbilder bei laufender Kamera. Deutlich wird: Es ist recht anstrengend, den Bildern mehr zu glauben als den Körpern

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Hugh massiert Julia den Fuß, gestützt gegen seine knackige Brust, und knabbert dabei fast an ihren Zehen. Das zeigt Großaufnahme eins. Das Bild daneben füllt Julias zurückgelehnter, vor Erregung vibrierender Körper im knappen roten Bikini. Zwischen den beiden Leinwandbildern aber ist der Blick auf die Bühne frei, den Drehort dieses Real-Time-Video-Mitschnitts „House of no more“ der New Yorker Big Art Group. Da hält Hugh nur ein abbes Bein, das zur Bestätigung seiner Fragmentierung auch noch blutüberströmt ist, in seinen Händen, während Julia, fünf Meter weiter weg vor einer zweiten Kamera, angestrengt auf ihren hohen Schuhen balanciert, um die Rückenlage hinzukriegen. Denn auch die Liege, die sie im Bild stützt, ist flach wie Pappe und wird ihr bloß von einer Assistentin ins Kreuz gehalten. Stimulationen, Simulationen, alles nur ein Fake.

Dennoch bietet die Big Art Group, die das Berliner HAU-Theater jetzt zum dritten Mal in einem Jahr zu einem Gastspiel eingeladen hat, Theater für Beinfetischisten: Es sieht so aus, als ob alle ihre Schauspieler wohl geformte Waden, hübsche Knie und kräftige Schenkel haben. Die Beine sind immer gut sichtbar unterhalb der etwa in Minirockhöhe hängenden Projektionsflächen. Viel mehr Beine als Protagonisten: Fleißig stöckeln sie auf und ab, wie Arbeitsameisen auf dem Laufsteg, die unaufhörlich die gefräßigen Monster Trash und Glamour füttern müssen.

Das Theater als unaufgeräumter Hinterhof, der die Sache am Laufen hält, und der Film als schöne Fassade: Es ist durchaus ein spannungsreiches Verhältnis, in das Caden Manson, Regisseur der Big Art Group, Theater und Film setzt. Das eine existiert in seinen Inszenierungen nicht ohne das andere, die Filme wären ohne das theatralische Moment ihrer Live-Erzeugung ihrer Konflikte und Clous beraubt. Ein permanentes Making-of als Genre mit eigenen Regeln: Denn jetzt wird nicht mehr nur die Erzeugung eines Effekts erklärt, sondern es scheint vielmehr, als wäre die Erklärung die eigentliche Botschaft, die lustvolle Demonstration des Fakes. Kein Wunder also, dass das, was vorne zu sehen ist, dabei an Zusammenhang einbüßt.

In „House of no more“ geht es um eine hysterische Sehnsucht nach dem eigenen Bild. Angeblich werden Fotografien eines Tatorts herumgereicht, aber man sieht nur leere Glasscheiben. Das Bild verliert seine Macht, Wirklichkeit zu bestätigen, und je schneller das Vertrauen in die Bilder schwindet, desto heftiger tobt der Sturm ihrer Erzeugung.

Es gibt Rudimente einer Geschichte. Julia sucht ihre verschwundene Tochter Kate, vielleicht auch nur als Bild ihrer selbst. Sie fürchtet, vergessen zu werden, und bittet Gary, Fotos von ihr zu machen. Dann drängt sich eine zweite Schauspielerin vor die Kameras und raubt Julia ihre Rolle. Julia eins ist von da an hinter Julia zwei her, will ihre Geschichte wiederhaben. Der Konkurrenzkampf um die Präsenz im Bild wird mit den Mitteln des Thrillers und des Katastrophenfilms ausgetragen, unentwegt Schusswaffen ins Bild gehalten und Rauchschwaden naher Brände als Kulisse herangezogen. Als ob die Herausbildung von Subjektivität und biografischer Geschichte nur noch vor dem Panorama nationaler Katastrophen stattfinden könnte.

Irgendwann findet die Performance nicht mehr aus ihren selbstreferenziellen Verschachtelungen heraus und verrauscht in der Addition der Trash-Effekte. Bis dahin aber hat sie genug Material geliefert, um das Motto der „American Tragedy“ zu füllen, mit dem das Gastspiel überschrieben ist. Der äußere Bezug ist schnell erzählt: Nach den Anschlägen vom 11. September tauchten plötzlich Berichte über verschwundene Kinder und die Suche nach ihnen auf allen Fernsehprogrammen auf. Ein Genre, das der Stimmung von Trauer und Verunsicherung Raum gab und das große Szenario der Bedrohung an der kleinsten Zelle, der Familie, nachspielte.

Doch dieser Rahmen spielt für die Aufführung kaum eine Rolle, zumal sich das Reality-TV hier eher irgendwie genügsam in seiner medialen Schmuddelecke eingerichtet hat, ohne groß darüber hinauszuwollen. Der Fake und seine realitätsstiftende Macht sind zwar noch immer ein Hype der Theorie und gern gesehener medienkritischer Topos, der Erkenntnisgewinn aber ist zunehmend marginal, mehr so ein Vortanzen des Instrumentariums der Dekonstruktion. Wie man aus diesem Vortanzen aber einen Überschuss an Überdrehtheiten, eine Selbstparodie des kritischen Anspruchs gewinnen kann, das weiß die Big Art Group gut. Klammheimlich macht sie sich auch lustig über die Illusion der Medienkritiker, schlauer als die Wirklichkeit zu sein.