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Archiv-Artikel

briefe an den präsidenten (9) „Im Fall von fanatischem Islam ist der moderate Islam die einzige Macht der Welt, die ihn bewältigen kann.“

Am 2.11. ist Präsidentschaftswahl in den USA. Bush oder Kerry? Für viele US-amerikanische Künstler ist diese Frage zur Schicksalsfrage geworden. Das Junge Theater wird vom 27.10. bis zum 3.11. unter dem Titel „mad(e) in Amerika“ in der Schwankhalle amerikanische und deutsche Künstler präsentieren, die sich mit Politik und Kultur in den USA beschäftigen. Vorab haben das Junge Theater und die taz Menschen aus Kultur und Wirtschaft gebeten, an den amtierenden, zukünftigen oder idealen US-Präsidenten einen Brief zu schreiben. Heute: Heinrich Kahlert, seit 1989 Islambeauftragter der Bremischen Evangelischen Kirche.

Dear Mr. President John Kerry,

herzlichen Glückwunsch zu ihrem Wahlsieg und alle guten Wünsche zu Ihrer Regierung.

Sie haben sich vorgenommen, die Spaltung in der Gesellschaft Ihres Landes zu überwinden. Es ist: Die Möglichkeiten, miteinander sprechen zu können, haben sich in den letzten Jahren vervielfacht, und doch reden die Menschen aneinander vorbei. Sie verstehen sich nicht. Es besteht Sprachlosigkeit. Unverstand, absichtliches Missverstehen, Vermessenheit und Eile verursachen diese Sprachlosigkeit im Wust der Wörter.

Ich bin Islambeauftragter der Bremischen Evangelischen Kirche und kümmere mich seit Jahren darum, dass Menschen verschiedener Kulturen und Religionen einander zuhören und wirklich verstehen wollen. Dass das nicht so leicht ist, ahnte ich bald, als ich damit begann. Die Schwierigkeiten liegen im Wesen des Menschen und in der Begrenztheit von Sprache begründet.

Der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal lässt in einem Lustspiel seinen schwierigen Helden dies sagen: „Sie können mich natürlich nicht verstehen, ich versteh mich selbst viel schlechter, wenn ich red, als wenn ich still bin.“ So sehr wir überforderten Menschen alle in diese Art der Selbstverliebtheit versponnen sind, so sehr müssen wir uns aufrichtig bemühen, einander zu verstehen.

In Ihrem Lande gibt es, was den Islam angeht, ausgezeichnete Gelehrte und Kenner des Reichtums und der Vielfalt orientalischer Kultur. Umso unverständlicher ist es, mit welcher Ignoranz die Regierung Ihres Vorgängers hantierte, als sie Freiheit und demokratische Kultur in den Irak tragen wollte. Es ist eine bedrückende Erfahrung, wenn sich düstere Prognosen bestätigen und es noch schlimmer kommt, als es vorher abzusehen war.

Lassen Sie mich noch einen zweiten Dichter zitieren, Amos Oz aus Israel: „Im Fall von fanatischem Islam ist der moderate Islam die einzige Macht der Welt, die ihn bewältigen kann.“

Drohgebärde und Demütigung haben dem fanatischen Islam nur neuen Zulauf gebracht. Hier in Bremen kenne ich viele moderate muslimische Frauen und Männer, die große Erwartungen auf Sie und Ihren Gerechtigkeitssinn setzen. Den Weg zu Freiheit und Demokratie wollen sie als ihren eigenen Weg gehen. Sie sind überzeugt, dass sich ihre Religion und die Werte und Spielregeln des säkularen Rechtsstaates vereinbaren lassen, und sie leben dementsprechend.

In unseren Ländern und weltweit haben wir nur gemeinsam Zukunft. Die Aufteilung in „wir“ und „die“ ist voreilig und wirkt sich verhängnisvoll aus, indem sie immer neu fadenscheinige Begründungen für Hass und Gewalt liefert.

Je länger ich die Geschichte studiere, desto deutlicher wird mir, dass es sich auch in der Vergangenheit um eine gemeinsame Lerngeschichte handelt, mit schwierigen und wegweisenden Phasen, wobei wir die Schatten und Verirrungen auf dem westlichen Weg zu Freiheit und Menschenrechten nicht verschweigen sollten. Hofmannsthals Held weigerte sich, aufzustehen und eine Rede zu halten „über Völkerversöhnung und über das Zusammenleben der Nationen“ aus Furcht vor „den heillosesten Konfusionen“.

Sie aber, Mr. President, haben jetzt den Auftrag nicht nur zum Reden, sondern auch zum verantwortlichen Handeln. Dazu wünsche ich Ihnen integere Berater und eine glückliche Hand.

Ihr Heinrich Kahlert