: Die zerstörten Häuser von Jabalia
In dem palästinensischen Flüchtlingslager im Gaza-Streifen wurden während der jüngsten israelischen Offensive zahlreiche Gebäude platt gewalzt. Die Bewohner verloren ihr Hab und Gut. 137 Menschen wurden getötet und über 400 verletzt
AUS JABALIA SUSANNE KNAUL
Die Hinterbeine von einem Stoffhund, ein weißer Plastikkleiderbügel, der Anorak eines vielleicht sechsjährigen Jungen und eine blaue, noch unbeschädigte Schulmappe liegen auf den Trümmern der zerstörten Häuser im Flüchtlingslager Jabalia. Am 30. September, gleich zu Beginn der israelischen Militäroperation „Tage der Antwort“, forderten Soldaten über Lautsprecher die Bevölkerung auf, ihre Häuser zu verlassen. „Wir hatten ganze sieben Minuten“, berichtet Rafad Abu-Ohn, der mit ein paar Nachbarn auf einer Matratze sitzt, wenige Meter von der Ruine seines Hauses entfernt. Zwei Blechdächer, provisorisch aneinander gebunden, bieten den Männern Schutz vor der Sonne.
13 Menschen haben in Rafads Haus gelebt. Jetzt wohnt er zur Miete und bezahlt zusammen mit seinem Bruder 300 US-Dollar monatlich für zwei kleine Wohnungen. Das ist eine Menge Geld für den Grundschullehrer, der in einer Schule der UNO unterrichtet und damit immer noch besser dasteht als seine mehrheitlich arbeitslosen Nachbarn.
„Wir sind weg, ohne etwas mitzunehmen“, berichtet Rafad. „Mein ganzes Hab und Gut war in diesem Haus, Kleidung, Fernseher …“, beginnt er, als ihn Raed unterbricht, ein Mittvierziger, der, seine langen, dünnen Beine in einer Jeanshose ausgestreckt, Rafad gegenübersitzt. „Ach komm, ich kauf dir ein paar neue Matratzen, mehr hattest du doch ohnehin nicht.“ Die Männer lachen über den Galgenhumor ihres Freundes, nur Rafad findet die Bemerkung nicht komisch. Der nicht sehr groß gewachsene Vorzeigebeamte sitzt, trotz der schwierigen Situation frisch rasiert mit dunkelblauer Hose und passendem hellblauen, faltenlosem Hemd, auf einem schmuddeligen Plastikhocker.
40 Jahre wohnte Rafad in dem Haus, ein – so weit das von den Bomben verschonte Gerüst erkennen lässt – einfacher, unverputzter Bau mit zwei Stockwerken und einer Außentreppe. Die Häuser stehen dicht an dicht. 150.000 Menschen drängen sich auf kleinstem Raum in dem Lager, das 1948 die palästinensischen Flüchtlinge auffing. Die Reste der jüngsten Militäroperation, des dreiwöchigen Wütens von Bulldozern, Panzern und aus der Luft abgegebenen Raketen liegen auf dem vielleicht 50 mal 70 Meter großen Platz verteilt: Steinhaufen, Geröll, Sand, dazwischen kleine Reste Hausrat, kaputte Matratzen, Kissen, das Gitter der Rückwand eines Kühlschranks. 44 Häuser seien hier zerstört worden, berichten die Männer, die aus ihrem Zorn und ihrer Vergeltungslust keinen Hehl machen. „Was erwartet ihr“, fragt einer von ihnen, „dass ich nun, da mein Haus kaputt ist, [Israels Premierminister] Scharon freundlich Hallo sage? Nein, ich will ihn töten.“
Eine Verbindung zwischen den Kassam-Raketen, die unmittelbar vor der Militäroperation in der israelischen Kleinstadt Sderot zwei Kinder getötet hatten und die Invasion auslösten, will keiner der Männer wahrhaben. Alle sind sich einig: Die Kassams sind nur ein Vorwand. Die Soldaten wären ohnehin gekommen. „Von unseren Häusern sind keine Raketen abgegeben worden“, beharrt Rafad, „von hier aus ist es viel zu weit“ bis nach Sderot. Die Kassams verfügten über „keine sehr große Reichweite“. Selbst wenn die Hamas-Kämpfer gekommen wären, hätte man sie weggeschickt. „Die Leute die hier wohnen, sind dagegen.“
Noch im gleichen Atemzug spekulieren die Männer, dass der Kampf der Hamas nach der Zerstörung in Jabalia nun noch härter werde. Nur Raed zögert: „Ich mag die Kassams nicht“, sagt er. „Ich bin arbeitslos und habe sechs Kinder zu ernähren, das ist alles, was mich interessiert.“ Raed lehnt das Sterben Unschuldiger auf beiden Seiten ab, doch auch er glaubt, dass Scharon seine Truppen ungeachtet der Provokation in den nördlichen Gaza-Streifen schickte.
Das kleine Al-Awda-Krankenhaus, das auf halbem Weg zwischen Jabalia und Beith Hanoun liegt, dem zweiten Ort der Militärinvasion, musste 250 Verletzte versorgen. 30 Menschen seien entweder schon tot eingeliefert worden oder in den ersten Stunden der Behandlung gestorben. Besonders auffallend sei die „hohe Zahl an Amputationen“ gewesen, berichtet Dr. Nasser Abu Samah, Chefarzt in der Notaufnahme. Rund 65 der behandelten Patienten hätten ein oder mehrere Gliedmaßen verloren. Andere litten an schweren inneren Verletzungen, die „vermutlich durch den bei Raketeneinschuss entstehenden Luftdruck“ verursacht wurden. 40 Prozent der Eingelieferten seien zudem „jünger als zwölf Jahre“ gewesen.
Insgesamt starben, israelischen Informationen zufolge, in den vergangenen drei Wochen 137 Palästinenser und über 400 wurden verletzt. Diese Zahlen übersteigen um mehr als das Doppelte die Opfer der israelischen Militäroperation „Schutzschild“ im Frühjahr 2003 im Flüchtlingslager von Dschenin. Die Palästinenser forderten damals mit dem Vorwurf, es habe ein Massaker stattgefunden, eine internationale Untersuchungskommission.