: Karlsruhe deckelt Straßburg
Die Verfassungsrichter befinden, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssten in Deutschland nur „berücksichtigt“ werden. Verbindlich sind sie nicht – anders als es die Bundesrepublik etwa von der Türkei verlangt
AUS FREIBURG CHRISTIAN RATH
Deutsche Gerichte dürfen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht einfach ignorieren. Dies hat gestern das Bundesverfassungsgericht klargestellt. Allerdings sei auch eine blinde Umsetzung der Straßburger Urteile nicht richtig. Sie müssten von deutschen Gerichten nur „berücksichtigt“ werden.
Konkret geht es um einen türkischen Vater aus Sachsen-Anhalt. Seine deutsche Freundin hatte 1999 ein nichteheliches Kind geboren und zur Adoption freigegeben. Seit fünf Jahren schon versucht Kazim Görgülü das Sorgerecht und ein regelmäßiges Besuchsrecht zu bekommen.
Das Oberlandesgericht Naumburg verweigerte ihm beides. Die emotionale Bindung des Sohnes zur Pflegefamilie sei schon zu tief. Um die Situation zu stabilisieren, verboten die Richter sogar Besuche Görgülüs.
Im Februar diesen Jahres entschied jedoch der EGMR in Straßburg, dass das deutsche Gericht damit Görgülüs Recht auf Familienleben verletzt habe. Es sprach dem Vater 15.000 Euro Schadensersatz zu. Doch bis heute hat Görgülü weder Sorge- noch Umgangsrecht. Das Amtsgericht Wittenberg wollte den Spruch aus Straßburg zwar sogleich umsetzen, doch entschied das Oberlandesgericht Naumburg erneut gegen den Vater. Das EGMR-Urteil sei für deutsche Gerichte nicht bindend.
Auf eine Verfassungsbeschwerde des Vaters hat sich jetzt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in den Streit eingeschaltet und hob den Naumburger Beschluss wieder auf. Das Gericht hätte die EGMR-Vorgaben nicht einfach ignorieren dürfen, sondern sich „nachvollziehbar“ mit der Straßburger Kritik auseinander setzen müssen.
Ein „unreflektierter Vollzug“ des Urteils, wie sie dem Amtsgericht Wittenberg unterstellt wurde, hielt Karlsruhe aber auch nicht für richtig. Die deutschen Gerichte müssten den Spruch vielmehr lediglich „berücksichtigen“.
Zur Begründung verwies Karlsruhe darauf, dass im Straßburger Verfahren die Pflegeeltern nicht beteiligt waren und damit auch nicht angehört wurden. Außerdem beziehe sich die Kritik aus Straßburg auf das Jahr 2002, seitdem seien also wieder zwei Jahre vergangen.
Es könne deshalb durchaus sein, dass ein Sachverständigen-Gutachten heute zum Schluss komme, dass es dem „Kindeswohl“ widerspreche, wenn Görgülüs Sohn nach fünf Jahren doch noch aus seiner Adoptivfamilie genommen wird.
Außerdem erinnern die Karlsruher Richter auch daran, dass das Grundgesetz im Konfliktfall über der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehe, weil diese in Deutschland nur Gesetzesrang hat. Zwar müssten Gesetze und auch die Verfassung in Deutschland „völkerrechtsfreundlich“ ausgelegt werden, sodass sich nach Möglichkeit gar keine Unterschiede ergeben.
Aber ausgeschlossen ist es eben auch nicht, dass Karlsruhe das Grundgesetz anders interpretiert als Straßburg die Menschenrechtskonvention. Deutsche Gerichte müssten dann Karlsruhe folgen, nicht Straßburg, so die klare Ansage der Verfassungsrichter.
Denkbar sind solche Streitfälle vor allem, wenn es um den Ausgleich verschiedener Grundrechte geht. So hat Karlsruhe der Pressefreiheit auch im Unterhaltungsjournalismus großes Gewicht gegeben, während die Straßburger Richter kritisieren, dass dabei die Persönlichkeitsrechte Prominenter zu wenig geschützt sind.
Immer wieder kommt es auch zu Streitigkeiten um die Rechte nichtehelicher Väter, deren Position der Straßburger Gerichtshof stärkt. Dagegen hat in Deutschland bisher das Kindeswohl den Ausschlag gegeben. Es wird hierzulande oft so interpretiert, dass die Ansprüche der Väter unter den Tisch fallen.
Der Streitfall Görgülü wurde jetzt von Karlsruhe an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts Naumburg zurückverwiesen. Inhaltliche Vorgaben wurden den Naumburger Richtern ausdrücklich nicht gemacht. Es ist also völlig offen, ob Vater Görgülü noch Sorge- oder Umgangsrecht erhält. Ohnehin ist der Fall noch beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anhängig. Dieser ist nach der Geschäftsverteilung für Fragen des Familienrechts zuständig.
Falls Görgülü am Ende wieder den Kürzeren zieht, dürfte er seinen Fall erneut nach Straßburg tragen. Möglicherweise muss ihm die Bundesrepublik dann erneut Schadensersatz zahlen.