: Schnitte ins Fleisch
Sehr schonungsloser Lebensroman: der große schwedische Erzähler Per Olov Enquist und seine Autobiografie „Ein anderes Leben“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Das grüne Haus liegt am Rande des Dorfes. Das Dorf heißt Hjoggböle und liegt etwa 1.000 Kilometer nördlich von Stockholm. Bis in die Fünfzigerjahre hinein durfte eine Fußballmannschaft aus dieser Gegend nicht in die erste Schwedische Liga aufsteigen; der Weg war zu weit. In Hjoggböle ist Per Olov Enquist geboren und aufgewachsen. Wer daran gezweifelt hat, dass er zu den ganz großen Erzählern der Gegenwart gehört, dürfte nach der Lektüre seiner Autobiografie eines Besseren belehrt sein. Manchmal erschrickt man darüber, mit welcher Unerschrockenheit hier ein Mensch in die Schwärze der eigenen Existenz blickt. „Ein anderes Leben“ hat einen Refrain; einen Satz, der in regelmäßigen Abständen ein Kapitel beschließt: „Warum es so gut anfing und dann so schlimm endete.“ Die ersten 130 Seiten, die vom Aufwachsen des jungen Per Olov unter der Obhut der streng religiösen Mutter erzählen, sind ohne Einschränkung eine literarische Meisterleistung.
Per Olov ist der zweite Per Olov; der erste, sein Bruder, ist eine Totgeburt; den Vater lernt Enquist nicht kennen; er stirbt ein halbes Jahr nach seiner Geburt und bleibt als Wohltäter-Figur im Hintergrund präsent. Enquists Sprache ist lakonisch, nüchtern, beinahe feindselig gegenüber sich selbst. Die Familiengeschichte setzt er in Bruchstücken zusammen; stets auf der Suche nach Spuren, die sich in dem manifestieren könnten, was man Identität nennt: die Urgroßmutter, die nach dem Verlust von sechs ihrer Kinder versucht, das übrig gebliebene siebte auch noch zu töten, und fortan, für verrückt erklärt, mit einem Nagel Symbole in die Wand ritzt. Der Großvater, der sich mit einem lebenden Kreuzfuchs im Gepäck auf die Reise nach Stockholm macht, um dort bei einer Zuchtschau den ersten Preis zu gewinnen. Und die Mutter, immer wieder. Nichts an diesen Schilderungen ist idyllisierend und nichts anklagend –„die europäische Geschichte ist, was sie ist“, heißt es an einer Stelle. Per Olovs Geschichte ist auch, was sie ist.
Eine große Frage schwebt über den Beschreibungen des eigenen Werdeganges: Kann der, der man ist, zu dem werden, der man sein will? Ist man dessen überhaupt würdig, vor Gott, der Mutter, dem toten Bruder, dem toten Vater? Enquist, ein Hüne von einem Kerl, entpuppt sich als begabter Hochspringer. Als er an die Universität von Uppsala kommt, wird Lars Gustafsson sein Zimmergenosse; dem bereits jetzt geschliffenen Intellektuellen gegenüber kommt Enquist sich vor wie „ein netter Sportidiot aus der Wildnis“. Das Gefühl der Unwürdigkeit überlagert auch die Tätigkeit des Schriftstellers Enquist. Und doch, es geht und es geht voran. Literarisches Schaffen und politisches Engagement gehen miteinander einher (auch hier wieder die Zweifel, wohin er gehört: Sozialdemokratie? Sozialismus? Er, als Spross des kulturkonservativen Erweckertums), und nun zeigt sich eine weitere erstaunliche Begebenheit in der Biografie Enquists: dass er immer wieder zufällig gerade dort ist, wo sich Weltgeschichte ereignet. Im Berlin des Jahres 1968, als Berichterstatter bei den Olympischen Spielen 1972, im Prag des Umbruchjahres 1989. Zu modellhaft fassbarem Erkenntnisreichtum trägt das aber kaum bei. Das Zentrum, so schreibt Enquist, sei ein überschätzter Ort.
Und doch wird die Kategorie des Politischen zu einem wichtigen Faktor. Mag sein, dass „Ein anderes Leben“ manch detaillierte Information zu den Grabenkämpfen der schwedischen Parteienlandschaft der Sechziger- und Siebzigerjahre enthält, die man nicht unbedingt gebraucht hätte, noch dazu die eine oder andere naive Phrase, geschuldet dem gesellschaftlichen Zeitkolorit – dahinter jedoch erscheint immer wieder der Mensch Enquist im Gespräch mit sich und der Welt, der von sich selbst nur in der dritten Person spricht und zusehends ins Rutschen gerät, ins Sinken, wie es im Buch heißt. Vergleicht man die Perspektive, mit der Enquist auf das Ich blickt, mit der seines sozialdemokratischen deutschen Pendants Grass (in „Ein anderes Leben“ nur nebensätzlich erwähnt), ist festzustellen: Hier wird nicht vorsichtig gehäutet, sondern brutal ins eigene Fleisch geschnitten.
Der dritte Teil des Buches ist ein Martyrium. Dass etwas nicht in Ordnung ist, merkt Enquist schon früh. 1972, 37 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, wie er glaubt, notiert er in sein Tagebuch: „Die Berufskrankheiten der Schriftsteller. Die Trägheit, die Paranoia und der Alkohol.“ 17 Jahre später ist Enquist endgültig ein Wrack, unfähig zu schreiben, dem Alkohol gänzlich verfallen. Aus der demütigenden Behandlung in diversen Entzugskliniken flieht er immer wieder; im Delirium rettet er sich gedanklich in das grüne Haus seiner Kindheit; so schließt sich ein Kreis – bis es eines Tages in der verschneiten Ödnis von Island zu einem Erweckungserlebnis kommt. Kurz darauf begibt Per Olov Enquist sich noch einmal freiwillig in Behandlung und beginnt dort mit der Arbeit an „Kapitän Nemos Bibliothek“, seinem wohl brillantesten und bedrückendsten Roman – mit Ausnahme von „Ein anderes Leben“, einem Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt und das doch ein grandioser schwarzer Lebensroman ist, an dessen vorläufigem Ende eine Rettung steht.
Per Olov Enquist: „Ein anderes Leben“. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Hanser Verlag, München 2009, 544 Seiten, 24,90 Euro