Wenn die Heide wackelt

Stärkstes je gemessenes Erdbeben erschüttert Norddeutschland. Epizentrum bei Rotenburg/Wümme, Auswirkungen noch in Bremen und Hamburg spürbar. Angeblich keine Gefahr für AKW und Atommülllager in Stade und Gorleben

von Alexander Diehl
und Kai Schöneberg

Ein Manöver? Eine explodierte Gasleitung? „Die Häuser haben hier ganz gut geschüttelt“, sagt Mathias Haase vom Bürgerbüro im niedersächsischen Visselhövede. Nur wenige Kilometer nördlich des 5.000-Einwohner-Städtchens, zwischen Rotenburg und Neunkirchen, ereignete sich gestern früh um 8.59 Uhr eine geologische Sensation: ein Erdbeben der Stärke 4,5 auf der Richterskala. Im Bürgerbüro unweit des Epizentrums liefen binnen Minuten 35 besorgte Anrufe ein. „Die Leute waren nicht panisch“, sagt Haase, „wollten aber wissen, was los war.“

Auch in Bremen und Hamburg meldeten sich aufgeregte BürgerInnen bei Polizei und Feuerwehr. Einigen der AnruferInnen soll vor den Erdstößen nervöses, teils fluchtartiges Verhalten ihrer Haustiere aufgefallen sein. MitarbeiterInnen der Hamburger Stadtreinigung verließen eilig ihr Dienstgebäude im Südwesten der Hansestadt, und im Stadtteil Wilhelmsburg, auf einer Elbinsel gelegen, wurde vorsorglich ein Bürogebäude evakuiert. Sogar im Spiegel-Hochhaus in der Innenstadt wollen sich RedakteurInnen kurzzeitig wie auf „einem schwimmenden Ponton“ vorgekommen sein.

„Es war das stärkste Beben in der Region seit Beginn der Messungen im Jahr 1900“, so der Leiter der Seismologie bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover, Manfred Henger. Zuletzt hatte es in Norddeutschland 1977 ein Beben der Stärke 4 bei Soltau gegeben. „Ein Beben in der Region ist ungewöhnlich, aber nicht außergewöhnlich“, betont Henger, dessen Aufgabe es eigentlich ist, mittels in ganz Deutschland positionierter Seismographen die Einhaltung des Kernwaffenteststopp-Abkommens zu überprüfen. „Im bayrischen Fürstenfeldbruck unterhalten wir die empfindlichste Station in ganz Europa“, erzählt Henger. „Früher haben wir sogar registriert, wenn die Concorde über Irland die Schallmauer durchbrochen hat.“

Die Ursache des Bebens kann sich der Geologe nicht erklären. Während sich im süddeutschen Rheingraben nur ganz selten Spannungen der afrikanischen und der europäischen Erdplatte entladen, passiert dies im Norden praktisch nie. Henger: „Eigentlich ist das eine aseismische Gegend.“

Am Nachmittag ging der Leiter des Geologischen Landesamts Hamburg, Jürgen Ehlers, indes davon aus, dass es sich bei den morgendlichen Geschehnissen um ein „Einsturzbeben“ gehandelt hat, wie es infolge eines Deckeneinsturzes unterirdischer Hohlräume entstehen kann: Demnach sei vermutlich der Gipsdeckel eines Salzstocks unterspült worden und eingebrochen. Ein „ganz normaler Vorgang“, so Ehlers, der in der Regel aber unbemerkt bleibe.

BGR-Geologe Manfred Henger schloss aus, dass das Beben, das sich in fünf Kilometern Tiefe zutrug, Auswirkungen auf die Salzstöcke in Gorleben oder in Stade gehabt hat: „Höchstens der Gipshut über dem Salz könnte einstürzen, ein Salzstock bleibt auf jeden Fall stabil.“ Und darin gelagerter Atommüll sicher.

Eine Sprecherin des niedersächsischen Umweltministeriums betonte, dass die Atomkraftwerke in der Region durch das Beben nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden: „Bei der Genehmigung sind auch mögliche Erdbeben berücksichtigt worden.“

Anders sieht das Eckhard Grimmel, Geograph an der Universität Hamburg, der sich wiederholt mit der Frage befasst hat, wie sicher deutsche Atomkraftwerke bei Erdbeben sind. Dass die Wahrscheinlichkeit von Beben „in Norddeutschland weniger groß als im Süden“ sei, bestätigt auch Grimmel gegenüber der taz. Weil sich aber ihre maximale Intensität nicht voraussagen lasse und die Kraftwerke eben nur bis zu einer bestimmten Stärke ausgelegt seien, bleibe in jedem Fall ein „Restrisiko“.

In einem Vortrag kritisierte Grimmel 1996 gar, „kein einziges“ der deutschen Kraftwerke sei „hinreichend gegen seismische Einwirkungen ausgelegt“. „Alle Modellrechnungen“, so heißt es dort weiter, „auf denen die seismischen Auslegungen der Atomkraftwerke basieren, sind grobe, um nicht zu sagen unzulässige Vereinfachungen der Wirklichkeit, die eine Sicherheit lediglich vortäuschen, aber keineswegs liefern. Dies gelte „ganz besonders für Kraftwerke, die schon lange in Betrieb sind“.

Vom Epizentrum am Westrand der Lüneburger Heide kaum weiter entfernt als das Spiegel-Hochhaus ist übrigens das AKW Stade, mithin eine der ältesten Anlagen im Land, abgeschaltet im vorigen November.