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Archiv-Artikel

Luxuskrise im Picobellobezirk

Wenn niemand auf Jobsuche ist, gibt es auch keine Auswahl. „Schrecklich“, sagt eine Arbeitgeberin

aus Freising JÖRG SCHALLENBERG

Diese Gegend hier ist nicht ungefährlich. Auf den Zufahrtsstraßen nach Freising kommt es immer wieder zu eigenartigen Verkehrsunfällen, weil die Fahrer offensichtlich zu abgelenkt sind, um auf den Straßenverkehr zu achten. Wenn man von München die knapp 50 Kilometer hinaus nach Freising fährt, dann weiß man, warum: Je näher man der altehrwürdigen Domstadt kommt, desto häufiger braust ein Passagierjet vor, neben, über oder hinter einem durch die Luft. Und es werden immer mehr. Denn nur ein paar Kilometer von Freising entfernt wächst seit elf Jahren im einstigen Naturschutzgebiet Erdinger Moos der Münchner Flughafen „Franz Josef Strauß“, der mittlerweile nach Frankfurt am Main der wichtigste Flughafen in Deutschland ist.

Das Gedränge in der Luft sorgt zwar für manchen Blechschaden am Boden und nervt tausende von Anwohnern, doch zugleich schafft es auch Oasen der Ruhe, die es anderswo in Deutschland nicht gibt. Die Parkstraße 11 in Freising ist so ein Ort. Betritt man das rote, von üppigem Baumwuchs fast überwucherte Backsteingebäude, dann fällt neben dem grünen Linoleumboden und den beigegelben Wänden als Erstes eine Atmosphäre geschäftiger Gelassenheit auf, die auf den Gängen herrscht. Nur eine Hand voll Menschen wartet an diesem Dienstagmorgen vor den Amtszimmern, und selbst der Fahrstuhl, der langsam in den dritten Stock hinaufschleicht, scheint sich der Geschwindigkeit dieses Ortes anzupassen.

Mit solchen Eindrücken braucht man Gerhard Güßgen allerdings nicht zu kommen. Selbst bei der scherzhaften Bemerkung, dass man hier wohl nicht so viel zu tun habe, verdreht der Direktor des Freisinger Arbeitsamtes die Augen. Sicher, der Publikumsandrang hält sich in Grenzen, aber dafür gibt es hier andere Probleme – und das liegt an den Zahlen, die er vor sich auf dem Tisch ausbreitet. Da steht es schwarz auf weiß: 5.920 der 150.000 Erwerbsfähigen waren im September 2003 im Arbeitsamtsbezirk Freising als arbeitslos registriert, was einer Quote von 3,9 Prozent entspricht – bei 996 offenen Stellen. Verglichen mit den eigenen Werten in den vergangenen Jahren, ist das für Freising keine besondere Quote. Blickt man aber auf den Rest eines Landes, in dem im selben Monat 10,4 Prozent Arbeitslose gemeldet werden, dann ist sie phänomenal. Wie immer.

Wenn die Bundesanstalt für Arbeit heute in Nürnberg die aktuellen und düsteren Zahlen zum deutschen Arbeitsmarkt veröffentlicht, dann wird der Zuständigkeitsbereich von Gerhard Güßgen wieder am Ende jener Statistik auftauchen, die von irgendeinem Bezirk aus Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg angeführt wird, dessen Arbeitslosenquote mehr als sechsmal so hoch wie jene in Freising liegen wird.

Seit mehr als einem Jahrzehnt hält der Bezirk, der an den Norden von München grenzt, durchgehend die Spitzenposition, wenn ausgezählt wird, wo es in Deutschland im Jahresdurchschnitt die wenigsten Arbeitslosen gibt. 2003 wird es nicht anders sein. „Es gab nur mal ein paar Monate, da hatte Donauwörth noch bessere Zahlen“, sagt Güßgen, und er wirkt dabei für einen Moment so, als ärgerte ihn das tatsächlich. Dabei sieht der 56-Jährige seinen Job nicht als sportlichen Wettbewerb. Dazu weiß er zu gut, wie ungleich die Voraussetzungen sind. Der Bau des Großflughafens ab Mitte der Achtzigerjahre und die Inbetriebnahme 1992 haben der wirtschaftlich zuvor schon bestens positionierten Region einen kaum schätzbaren Standortvorteil verschafft und nationale und internationale Firmen angezogen.

Freising ist eine Fachwerkstadt – gepflegt, gehegt, gefegt. Nicht jeder fährt einen BMW, aber verbeulte Autos sieht man selten. Die letzten Krisen auf dem Arbeitsmarkt haben die Gegend nie betroffen. Gerhard Güßgen glaubt, dass das an der richtigen Mischung liegt. Größter Arbeitgeber ist der Flughafen mit 4.400 Beschäftigten, aber die nächstgrößeren Firmen gehören zu anderen Branchen: Die IT- und Mikrochipunternehmen Cisco, SAP oder Texas Instruments, ein Großbäcker, eine Molkerei, eine Brauerei, ein großer Ableger der Technischen Universität München, Möbelfabrikanten, BMW. Und der Gabelstaplerhersteller Jungheinrich verlegt gerade entgegen allem Gejammer über den teuren Standort Deutschland ein Werk aus England hierher. Ach ja, dann wären da noch Kaufhäuser wie Ikea, das so erfolgreich ist, dass es sich mit einem neuen Markt im Süden von München gerade selbst Konkurrenz macht.

Wenn Gerhard Güßgen die wichtigen, also „wissen Sie, nur die wirklich wichtigen“ Arbeitgeber seines Bezirks aufzählt, dann dauert das schon ein paar Minuten, und hinterher muss er noch einen Moment überlegen, ob er auch niemand vergessen hat. Es verwundert wenig, dass die entscheidende Aufgabe seines Amtes darin besteht, „die passenden Leute hierher zu bringen“. Die Gier nach Arbeitskräften kann die Region allein schon lange nicht mehr stillen. Es gibt über 2.000 Pendler, die meist im Wochenrhythmus aus Ostdeutschland zur Arbeit anreisen. Mit den Arbeitsämtern im sächsischen Bautzen und in Leipzig kooperieren Güßgen und seine Leute seit einigen Jahren, besonders um junge Leute anzulocken – mit Prämien, Eingliederungshilfen und einem Umzugsservice, der sich vom Ämtergang bis zur Wohnungssuche um alles kümmert und anderswo Managern vorbehalten ist.

Wer, fragt man sich angesichts dieser märchenhaften Zustände, ist hier eigentlich noch arbeitslos?

Nina-Christina Bojack zum Beispiel. Die 20-Jährige sitzt am frühen Nachmittag in der hübschen, hellen, picobello sauberen 67-Quadratmeter-Wohnung, die sie sich mit ihrem Freund in der Freisinger Innenstadt teilt, und wäre am liebsten überall, bloß nicht hier. 70 Bewerbungen hat sie geschrieben, seit sie ihren Job als Rechtsanwaltsfachangestellte gekündigt hat, weil das Arbeitsklima in ihrer alten Firma „völlig unerträglich“ war. Dass sie bislang nur zu drei Vorstellungsgesprächen eingeladen wurde und reichlich Absagen kassiert hat, verblüfft die selbstbewusste junge Frau: „Ich habe eine gute Ausbildung und Berufserfahrung – und Stellenangebote gibt es eigentlich genug.“ Arbeitslos gemeldet ist sie allerdings erst seit dem 1. Oktober, und weil sie zur Überbrückung so ziemlich jeden Job annehmen würde, kann man vermuten, dass sie es nicht lange bleiben wird. Elend sieht anders aus.

Nur Donauwörth hatte schon bessere Zahlen, sagt Freisings Arbeitsamtschef verärgert. Hatte

Sehr lange ohne einen neuen Job bleiben hier die wenigsten. Nur um die 15 Prozent Langzeitarbeitslose – bezogen auf alle Jobsuchenden – weisen die Statistiken von Gerhard Güßgen aus: „Meist ältere oder gesundheitlich angeschlagene Arbeitsuchende.“ Und wie viele bleiben da noch, die nicht wollen? Güßgen lächelt breit. „Es ist schwer, hier nicht zu wollen, weil wir den Leuten gute Angebote machen. Immer wieder.“ Dann wird er ernst: „Diese Diskussion um die angeblich Faulen halte ich für übertrieben. Auch wenn jetzt alles verschärft wird, etwa beim Bezug des Arbeitslosengeldes, wird die Wirkung auf den Arbeitsmarkt begrenzt sein. Wo sollen die Arbeitslosen denn hin, wenn es die Stellen nicht gibt?“

Selbst in Freising ist der Markt enger geworden. Die Zeiten, als bei unter 2,5 Prozent Arbeitslosenquote und genau so vielen offenen Stellen wie Suchenden im Prinzip Vollbeschäftigung herrschte, sind auch schon wieder drei, vier Jahre vorbei. Für Bewerberinnen wie Nina-Christina Bojack ist das schlecht, für Brigitte Schmid dagegen eine Erleichterung. Die 52-Jährige leitet ein Senioren- und Pflegeheim in Taufkirchen/Vils, das ebenfalls zum Arbeitsamtsbezirk Freising zählt. Weil Altenpflege lange nur als harter, unterbezahlter Job galt, hatte Schmid im Paradies für Arbeitnehmer jahrelang Probleme, genügend gut ausgebildete Kräfte zu bekommen. Mit einem leichten Kopfschütteln erinnert sie sich „an eine schreckliche Zeit“, in der man bei Neueinstellungen öfter mal beide Augen zudrücken musste – es gab einfach keine Auswahl. Seit der Beruf der Altenpflegerin gesetzlich der Krankenschwester gleichgestellt wurde und, vor allem, seit die Zahl der offenen Stellen und Ausbildungsplätze in Freising zurückgegangen ist, kann Schmid wieder unter den Besten wählen.

Blickt man in die Zukunft der momentan nur ein klein wenig entzauberten Region Freising, dann könnten Brigitte Schmid womöglich wieder die alten Probleme einholen: Ein Gutachten, an dem auch der bayerische Wirtschaftsminister Otto Wiesheu (CSU) mitgewirkt hat, prognostiziert, dass sich die Fluggastzahlen auf dem Münchner Airport mittelfristig von 25 auf 50 Millionen pro Jahr verdoppeln werden. Für Arbeitsamtsdirektor Gerhard Güßgen gilt die Faustregel, „dass auf eine Million Passagiere gut 500 Arbeitsplätze kommen“. Das wäre dann das nächste Wirtschaftswunder für Freising.

Das Arbeitsamt verliert womöglich sowieso seine Eigenständigkeit, wenn demnächst die Bundesanstalt für Arbeit umgebaut wird. Wahrscheinlich würde auch in der Chefetage eingespart. Dann müsste hier nur einer um seinen Job fürchten. Gerhard Güßgen.