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Archiv-Artikel

Neun rote Karten für Polen

Polen ist Schlusslicht beim EU-Erweiterungsbericht. Das große Problem sind die Hygieneanforderungen für Lebensmittel. Für viele Milchbauern wird es eng

WARSCHAU taz ■ Polen ist von allen Kandidatenländern am schlechtesten auf den EU-Beitritt vorbereitet. „Von der Eselsbank in die EU“ titelte die größte Tageszeitung Polens, Gazeta Wyborcza, gestern selbstkritisch. Die Europäische Kommission zeigte Polen neun rote Karten – so viel wie keinem anderen Beitrittsland. Die polnischen Politiker hätten den Mut verloren, unumgängliche Reformen auch durchzusetzen, zitiert die Zeitung den Bericht. Brüssel befürchte, dass Polen nicht in der Lange sein werde, die Versäumnisse in den verbleibenden sechs Monaten noch aufzuholen.

Hauptkritikpunkte sind die ineffektive und stark vom Parteibuch beherrschte Verwaltung, das Gerichtswesen, die ausufernde Korruption, fehlende Gesetze auf dem Medien- und Arbeitsmarkt sowie die mangelhafte Vorbereitung der Landwirtschaft auf den EU-Beitritt des Landes.

„Die Probleme sind uns bekannt“, erklären Regierungspolitiker in Warschau gelassen. „Wir befinden uns in unserem eigenen Zeitplan“, versichert auch EU-Ministerin Danuta Hübner. „Am 1. Mai nächsten Jahres werden wir vollständig auf den EU-Beitritt vorbereitet sein.“

Doch es gibt auch Skeptiker. Insbesondere in der Landwirtschaft und bei den Hygienestandards für Lebensmittel hinkt Polen nämlich weit hinter den anderen Kandidaten hinterher. Alles deutet darauf hin, dass es nicht zu schaffen sein wird, bis 1. Mai 2004 das IACS-System zur Verwaltung und die Verteilung der EU-Subventionen so einzuführen, dass es auch wirklich funktioniert. Ohne IACS aber gibt es für polnische Bauern zunächst kein Geld aus Brüssel.

Noch dramatischer dürften sich die schlechten Hygienezustände in Molkereien, Fleisch- und Wurstfabriken auswirken. Zurzeit erfüllen von insgesamt 1.409 Molkereien nur 38, weniger als 3 Prozent, die Hygienestandards der EU. Noch schlechter sieht es bei den Fleischbetrieben aus. Von 3.785 Firmen werden nur 90 den verlangten Qualitätskriterien gerecht, also gerade mal 2,4 Prozent.

Während bei den meisten Molkereien die Chance auf Modernisierung bis Ende 2006 besteht, werden mindestens 1.500 Fleischbetriebe schließen müssen (knapp 40 Prozent). Die Investition in moderne Kühlanlagen würde die Fleisch- und Wurst-produktion auf längere Sicht unrentabel machen und die Firmen in den Konkurs treiben. Wer aber nicht bis spätestens Ende Dezember 2006 die Hygienestandards der EU erfüllt, wird dichtgemacht.

Auch für die polnischen Bauern wird es langsam eng. Laut einem Bericht der Zeitung Rzeczpospolita ist ein Drittel der Rohmilch, die die Bauern bei den Molkereien abgeben, ungenügend gekühlt und daher zu stark mit Bakterien belastet. Solche Milch darf ab dem 1. Januar 2007 nicht mehr zur Weiterverarbeitung angenommen werden. Da sich für Kleinbauern die Investition in teure Kühlsysteme nicht lohnt, haben bis Ende September nur 200.000 von rund 1 Million Landwirten eine EU-Milchquote beantragt. Viel weniger, als die polnische Regierung erwartete.

Nur die Bergbauern rund um Zakopane lachen sich ins Fäustchen. Ihren Oscypek hat Brüssel als Käsespezialität anerkannt. Ob in dem Räucherkäse ein paar Bakterien mehr oder weniger drin sind, interessiert niemanden groß: Hauptsache, es schmeckt. GABRIELE LESSER