: Einsam in Jacksonville
AUS JACKSONVILLE LENNART LABERENZ
Wer erfahren möchte, wie sich Einsamkeit anfühlt, muss nach Jacksonville, Florida, reisen. Einsam ist es, nachmittags durch die Straßen von Downtown zu spazieren. Einsam ist es, dort nach Abweichungen von der Norm zu suchen. Jacksonville hat zwar nur 700.000 Einwohner, doch der Fläche nach ist es die größte Stadt der USA.
Die Innenstadt ist verwaist. Zwischen glasverspiegelten Bürotürmen haben ein paar Cafés geöffnet – bis drei Uhr nachmittags. Nach der Eröffnung des landesweit ersten riesigen Einkaufskomplexes in den 60er-Jahren ist das Innenstadtleben verödet. Alles Urbane ging verloren, übrig blieb eine weit verstreute Siedlung. In einem Café hängen große Fotodrucke, die flanierende Menschen vor klassischen Gebäuden der 20er-Jahre zeigen. Flanieren ist out: Ohne Auto geht gar nichts, die Häuser sind abgerissen.
Die Hafenstadt liegt nur wenige Kilometer von der Atlantikküste entfernt – im Norden des „Swing State“ Florida, einem Bundesstaat, in dem weder die Republikaner noch die Demokraten von einem Sieg ausgehen können. An Jacksonville wird das nicht liegen: Die Stadt ist fest in republikanischer Hand. Und auch sonst hat alles seine Ordnung hier. Es gibt 30 Golfanlagen für jene Rentnerbrigaden, die hier ihren Lebensabend verbringen. In Jacksonville leben überwiegend Weiße, die Obdachlosen und Tagelöhner sind mehrheitlich schwarz oder Latinos.
Wer erfahren möchte, wie sich Einsamkeit anfühlt, braucht nur Daryl Moricone zu treffen. Moricone ist 51 Jahre alt, klein von Wuchs und mit Staub bedeckt. Er darf am 2. November nicht wählen, er wurde zweimal ohne gültigen Führerschein erwischt und ist nun in einem Arbeitsprogramm – anstelle seiner fünfmonatigen Haft. Moricone hat einen Job als Bauarbeiter gefunden, muss aber jeden Tag um fünf nach sechs in die städtische Haftanstalt zurück.
Moricone arbeitet auf einer der zahlreichen Baustellen, die Jacksonville für das US-amerikanische Ereignis schlechthin aufbürsten: Im nächsten Jahr wird hier der Superbowl, das Football-Endspiel, ausgetragen. Millionen Menschen aus aller Welt werden auf Jacksonville schauen.
„Mein Boss ist heute nicht gekommen und wir waren eine Stunde früher fertig. Nun muss ich die Zeit auf der Straße totschlagen“, erzählt er genervt. Er darf kein Gebäude betreten, nicht mal um einen Kaffee zu trinken. Aber besser als nur im Gefängnis. Dort gibt es keinen Fernseher, keine Zeitung, und rauchen darf man auch nicht.
Moricone lebt seit dreißig Jahren in Jacksonville. Politik interessiert ihn überhaupt nicht. „Mein Leben ist schwer genug, ich habe mit Politik nichts zu tun“, sagt er. Mit dieser Meinung ist er nicht so allein in dieser Stadt, und bei aller Aufregung über die Wahlen drückt dieser Satz noch immer die Haltung vieler Amerikaner aus. Trotz der skandalträchtigen letzten Wahl, trotz der Politik der gegenwärtigen Regierung.
In Jacksonville, Florida, ist deswegen kaum jemand wütend. Jacksonville, Florida, mag ja ein trostloser Ort sein, mit einförmigen Häusern und blanken Gehwegen. So blank, dass man eine Zigarettenkippe auf der Straße austreten möchte und hofft, dass sich alle darüber entsetzen mögen. Aber wütend? Alles ist nett und alle sagen: guten Tag.
Probleme? Angesichts der Probleme müsse Bush aus seiner fabrizierten Fantasiewelt in die Realität zurückkehren, hat sein demokratischer Herausforderer John Kerry hier vor ein paar Wochen durch die Stadt gerufen. Er meinte den Irak. Es ist Wahlkampf. Und Florida ist Swing State. Hier gewann George W. Bush die letzten Wahlen mit einem Vorsprung von 547 Stimmen. Später wurde bekannt, dass selbst diese knappe Mehrheit noch gemogelt war.
Wer erfahren möchte, wie sich Einsamkeit anfühlt, könnte auch Sabina Guberac besuchen. Guberac wurde vor 39 Jahren in der Gegend von Banja Luca geboren. Aus Bosnien floh sie vor dem Krieg nach Hamburg, dort drohte die Abschiebung, und sie machte sich mit ihrem Mann und Sohn nach Jacksonville auf. Hier leben tausende Bosnier. Nach sechs Jahren arbeitet sie nun im Büro eines Transportunternehmens sowie an einem kleinen Obst- und Gemüsestand in einem Einkaufskomplex.
Das „Jacksonville Landing“ ist ein schnell errichtetes Einkaufsparadies, auf Charme wurde weitgehend verzichtet. Das Gebäude streckt sich in einem weiten Halbkreis und blickt auf den St. Johns River, der die Stadt in zwei Hälften trennt. Im „Landing“ ist es kühl und die Luft schmeckt so künstlich wie das Essen, das hier verkauft wird. „Ich habe Angst. Jeden Tag hoffe ich, dass ich nicht krank werde, nicht meinen Job verliere. Hier geht es nur um Geld, ausschließlich um Geld. Das heißt arbeiten, nichts als arbeiten“, erzählt Sabina Guberac.
Sie fühlt sich auch heute, nach sechs Jahren, nicht zu Hause hier. Nicht in Jacksonville, nicht in den USA. Dennoch ist die Papierarbeit für ihre Staatsbürgerschaft schon bewältigt, kürzlich hatte sie das entscheidende Interview. Es eilt. „Ich will Kerry wählen. Wenn Bush wieder Präsident wird, wäre das eine Katastrophe.“
Sabina Guberac beschwert sich über die hohen Steuern, den Druck, den sie jeden Tag aushalten muss. Sie steht alleine hinter dem Tresen des Obstladens, und auch davor ist es recht leer. Außer an Wochenenden und nach dem Mittagessen verirrt sich kaum jemand hierher. Das Geschäft läuft nicht besonders, was Guberac weiter Angst macht. Über den Irakkrieg spricht sie nicht.
Auch Guberac befindet sich mit ihren Sorgen im Kanon eines Großteils der Bevölkerung. Nicht wenige plagt Existenzangst. Und so sind es eher innenpolitische Themen, die die Bevölkerung der USA bewegen, behauptet Dale Maharidge. Maharidge hat für sein neues Buch „Homeland“ drei Jahre den mittleren Westen und den Süden der USA bereist, hunderte Gespräche geführt und die Verwundungen an „der Seele“ der USA nach den Anschlägen vom 11. September gesucht.
Arbeit und Gesundheitsvorsorge sind die wichtigsten Themen, „es gibt etliche Millionen von amerikanischen Arbeitern, die in Armut und einer virtuellen Depression leben, in einer virtuellen Weimarer Republik“. Deshalb fordert er von Demokraten, konkrete Vorschläge für Reformen zu erarbeiten. „Bisher haben Demokraten versucht, den besseren Kriegspräsidenten zu stellen, diese Strategie ist falsch“, sagt Maharidge.
Wer erfahren will, wie sich Einsamkeit anfühlt, könnte auch Tony Benton treffen. Tony Benton ist 35 Jahre alt, selbstständiger Friseur – und wütend. „Dies ist das Land der reichen Weißen, und es funktioniert für reiche Weiße. Wir Schwarze sind nach wie vor entrechtet“, ruft er durch das Geschäft.
Eigentlich ist Benton ein fröhlicher Mensch, einer mit einem einnehmenden Lachen. Aber wenn er anhebt zu erzählen, was er von Bush hält, grinst er nur sarkastisch. Er verweist dann einfach darauf, dass das gegenwärtige Kabinett die reichste Regierung der Welt zusammenbringt, mehr als die Hälfte der Kabinettsmitglieder besitzt über 10 Millionen Dollar. „Mein Kandidat wäre Ralph Nader“, sagt er. Der habe realistische politische Vorstellungen. „Aber natürlich werde ich Kerry wählen.“
Dieses Mal, so sagt er weiter, „wird es schwierig einen Wahlbetrug hier in Florida zu organisieren, schließlich schaut die ganze Welt zu“. Er stockt, lacht von neuem und fügt an, „aber wenn sie wollen, können sie das wohl wieder hinbekommen. Dafür sorgen schon die elektronischen Wählmaschinen.“
Nachdem bekannt geworden war, dass der elektronische Wahlvorgang manipulierbar ist, die einzelnen Stimmen nicht nachgezählt werden können und die Softwareprogramme von einer Firma erarbeitet wurden, die Millionen für Bushs Wahlkampagne gespendet hat, entscheiden sich mehr und mehr Menschen in Florida für eine Briefwahl. Auch Tony Benton wird das tun. „Ich habe immer gewählt und werde es auch immer tun. Aber mir ist klar, dass meine Stimme keinen Einfluss auf das Wahlergebnis hat.“ Und das sei auch der Grund, warum er sich manchmal schon recht einsam fühle.
David Snyder hat dazu keinen Grund. Er strahlt die Art Selbstsicherheit aus, die man wohl spürt, wenn man sich auf der Seite der Mehrheit wähnen kann. Snyder ist 61 Jahre alt und Besitzer einer kleinen Baufirma. Gegenwärtig koordiniert er Arbeiten auf drei Baustellen für den Superbowl. Sein weißes Haar ist ordentlich gestutzt, genau wie sein weißer Seemannsbart. Er trägt kurze hellbeige Hosen und ein blassblaues Polohemd. Alles an ihm wirkt gepflegt. „George W. Bush ist ein hervorragender Präsident. Er hat Stärke und Durchsetzungskraft. Und er ist kein Bürokrat aus Washington“, sagt er überzeugt.
Über Snyders Gürtel staut sich ein gewaltiger Bauch, den er hinter dem Lenkrad einer unförmigen, geländegängigen Limousine unterbringt. Das so genannte Sports Utility Vehicle verbraucht knapp dreißig Liter Sprit auf hundert Kilometer. Snyder hat zwei davon, er hat ein Wochenendhaus, ein Motorboot, und für den Rasen hinter seinem Haus braucht er einen kleinen Trecker. David Snyder kommt direkt aus dem Bilderbuch. Es heißt „Erfolgreiches Amerika“ und hat viele Seiten. Für das untere Ende der sozialen Hierarchie wäre darin kein Platz. Natürlich weiß Snyder auch so, dass es dieses Ende gibt und dass dort Leute leben. Deswegen kann er auch über sie schimpfen: „Drogensüchtig sind die und faul“, sagt er.
Dann werden auf Wangen und Nase kleine Adern dicht unter der Haut mit rotem Blut geflutet. Der Liberalismus habe das Land auf seine Knie gezwungen, vom rechten Weg abgebracht, damit müsse Schluss sein. Snyder ruft Gott zum Zeugen, wenn die Rede auf Homosexualität kommt, „abartig“ sei das. Einen gerechten Krieg fechte man im Irak, „und natürlich müssen wir unsere Ölversorgung sichern“.
Snyder hat drei Töchter, zwei sind schon verheiratet, haben Kinder. Mit seiner jüngsten Tochter hat er Probleme, „sie will Ralph Nader wählen“. Aus seinem Mund klingt das wie eine persönliche Beleidigung. Er rückt auf seinem Autositz zurück, als müsse er Distanz schaffen.