: Verleumdete Organe
Die Nieren haben sich im Reich der Kunst praktisch nie etwas zu Schulden kommen lassen
„Erwachsensein heißt Nierensteine, einen dicken Bauch und eine Horde Kinder, die dir am Rockzipfel hängen“, behauptet die Moskauer Jungautorin Denezkina. So geht es immer – nicht nur in Putins Reich: Von den Nieren sprechen, meint üble Nachrede, heißt Nierenkrebs, Nierengrieß, Nierenversagen, Urämie. Die Nieren sind ein ständiger Stein des Anstoßes. Das paarige Organ trieze den Körper mit kleinen und großen Klumpen aus Calciumoxalat, die via Harnleiter in die Blase wandern, krampfartige Koliken verursachen und sich nur operativ entfernen oder durch außerhalb des Körpers erzeugte Stoßwellen zertrümmern lassen. Nierenhasser schrecken nicht einmal davor zurück, so etwas Gruseliges wie Lebendnierentransplantationen live im Internet vorzuführen, um das Image der Nieren endgültig zu ruinieren. Wie ungerecht und verleumderisch das alles ist, zeigt der Fall Mozart.
Kurz vor dem Tod des Komponisten, berichtet dessen Hausdiener Joseph Deiner, habe sich in Mozarts Stammlokal „Zur Silbernen Schlange“ folgende Szene abgespielt: Das Wolferl, ein passionierter Biertrinker vor dem Herrn, saß auf einer Bank und trank Wein. Das heißt, er trank nicht, vielmehr habe Mozart das vor ihm stehende Glas Grauburgunder gar nicht angerührt, sondern nur reglos dagehockt und ins Weite gestarrt. Als der Hausdiener hinzutrat, habe Mozart ihn mit den Worten begrüßt: „Na, Joseph, wie geht’s“. „Das sollte ich Sie wohl fragen“, gab Deiner zurück, „denn Sie sehen ganz krank und miserabel aus.“ Der Hausdiener fügte auch gleich eine Diagnose an: „Vermutlich haben sie in Böhmen viel Bier getrunken und sich damit den Magen verdorben.“ Da fühlte sich der Komponist an der Ehre gepackt. „Mein Magen ist besser, als du meinst, ich habe schon mancherlei verdauen gelernt.“ Dann aber habe Mozart geseufzt und mit dumpfer Stimme angefügt: „Nein, ich fühle, dass bald ausmusizieret sein wird.“
Kurz drauf begannen ihm tatsächlich Geschwulste an Händen und Füßen zu wachsen, er bekam heftiges Kopfweh, Schüttelfrost und Hautausschlag, ferner erbrach sich das Genie, halluzinierte und rief „Ich rieche schon den Tod“, noch ehe ihn ein hitziges Fieber endgültig auf das Krankenlager warf.
Hier vollendete er noch schnell das berühmte Requiem und verschied am 5. Dezember 1791 kurz vor 1 Uhr in der Früh. Wie nicht anders zu erwarten, rang die Medizinerzunft heftig um die Deutungshoheit am Totenbett des Musikers. „Hirnhautentzündung“ riefen die einen, „rheumatisches Entzündungsfieber“ die anderen, wieder andere diagnostizierten „Syphilis“. Letztlich bekamen aber doch wieder die Nieren alles angehängt, welche Mozart durch akutes Versagen ins Grab gebracht haben sollten. Der Sterbende wusste es besser. Wiederholt äußerte er, „sein Feind“ und Komponistenkollege Salieri trachte ihm nach dem Leben. Heute sind sich Fachleute und Laien weitgehend einig, dass Mozart von einer perfide über Monate in kleinen Dosen verabreichten Menge Quecksilber hingerafft wurde.
Stellvertretend sei hier der finnische Tonsetzer Jean Sibelius zitiert, der an Dieter Kerner, Verfasser des Standardwerkes „Krankheiten großer Musiker“, schrieb: „Ja, es scheint wohl so gewesen zu sein, dass einer der Größten der Tonkunst ermordet wurde. Welches Glück, dass er schon so viel geschrieben hatte.“
Die Nieren, auch das geht aus Kerners Kompendium hervor, haben sich im Reich der Kunst praktisch nie etwas zu Schulden kommen lassen. Beethoven und Schubert starben an venerischen Infektionen, Smetana tatsächlich an Syphilis, Schumann an Hirnsklerose. Debussy wurde ein Darmgeschwür zum Verhängnis. Die Herren Wagner, Bruckner, Reger und Schönberg hatten ein schwaches Herz, Dvorák und Verdi traf der Schlag. Chopin, von Weber und Paganini warf Tuberkulose aus dem Rennen, Berg und Mahler wurden Opfer einer Sepsis, Tschaikowsky erlag der Cholera.
Auch in anderen Abteilungen des Pantheon heißen die Übeltäter eher Lungenentzündung (Goethe, Monet, Karl May), Gallenkolik (Warhol), Schlaganfall (Lenin), Herzversagen (Orson Welles), Drogenmissbrauch (Brian Jones, Jimi Hendrix, Charlie Parker etc.), Industriestahl (Lincoln, Rathenau, Rommel, Kennedy etc.) oder einfach Übermut (Grace Kelly, Diana, James Dean, Jochen Rindt etc.).
Hiermit sei ein für alle Mal klargestellt: Die Nieren sind ein nützliches Organ. Sie räumen den Müll aus dem Blut, regeln den Blutdruck und kümmern sich um den Wasser-Salz-Haushalt im Körper. Dabei haben sie eine schöne Bohnenform, kuscheln sich possierlich in eine Bauchfalte aus Fettgewebe und sind äußerst pflegeleicht.
Wie eine Studie der Harvard-Universität vor zwei Jahren ermittelte, reichen ein paar Gläser Wein am Tag, um die Nieren glücklich und rundum zufrieden zu machen. Und wenn sie doch mal kaputt gehen, lässt sich das ganz leicht beheben. Der Schriftsteller Albert Pütz (Idar-Oberstein) berichtet in seinem Erzählband „Glashaus mit Steinen“, wie sich eine ihn bis zur Raserei peinigende Kolik während der Echternacher Springprozession quasi von selbst in Wohlgefallen auflöste.
MICHAEL QUASTHOFF