: Super Blick auf Ground Zero
Zwei aktuelle Hamburger Inszenierungen verhandeln die Fernwirkungen des 11. September. Nur die Strategien sind verschieden. Während auf Kampnagel die Performer von „Goat Island“ auf die Intensivierung von Erfahrung setzen, rettet sich das Thalia in der Gaußstraße mit Lakonie
Der Abend beginnt mit einer Entschuldigung beim Publikum, das an zwei Seiten der kleinen Spielfläche auf Kampnagels Probebühne Platz genommen hat. Es gäbe keinen Anfang für dieses Stück, heißt es. Und außerdem sei ein Tanz unterwegs verloren gegangen.
Doch das Weglassen hat bei der Chicagoer Performancegruppe Goat Island System. In ständiger Wiederholung werden Texte und Bewegunsfolgen ausgedünnt, demontiert und neu konstruiert, bis sie ihren eigenen Rhythmus in subversiven Stimmungsbildern entwickeln. Ihr jüngstes, gerade erst in London uraufgeführtes Stück When will the September roses bloom? Last night was only a comedy gastiert bis 30. Oktober beim Koproduzenten Kampnagel.
Der Anfang des Stücks liegt rund drei Jahre zurück. Als die Gruppe Goat Island, die sich trotz einer künstlerischen Leiterin, Lin Hixson, als Kollektiv versteht, im September 2001 zum ersten Mal auf Kampnagel gastierte, hatte sie mit ihrem Stück It‘s an Earthquake in my Heart an den Nerv gerührt, der einige Tage später mit den Anschlägen in den USA blank lag. Empfindlich hatte sie an Nationalstolz und Gottvertrauen gekratzt, am Sicherheitswahn einer hoch technisierten Gesellschaft. Sie hatte von Vätern im Bürgerkrieg erzählt und das monströse Bild von der Mutter, die als Auto wiedergeboren wird, entworfen.
Nun kommt die Zeit der Heilung, der Reparaturen, der Neukonstruktionen. Die Zeit danach und die Suche nach Antworten, die neue Fragen aufwirft, in einem Labyrinth aus verdrehten Blickwinkeln und blinden Flecken, aus Verlust und Vergessen, das die fünf Performer hier entwerfen.
Der rumänische Dichter Paul Celan, die französische Philosophin Simone Weil und der amerikanische Stummfilmstar Lillian Gish geistern durch dieses Universum. „Wann blühen, wann blühen die Septemberrosen? Wann? Wann?“, fragt Karen Christopher mit einer Zeile aus einem Gedicht von Celan, die den Titel für das Stück lieferte. Und so wie jener das Bedürfnis hatte, die vom Nationalsozialismus korrumpierte Sprache neu zu ordnen, arbeiten sich die Performer an ihren abrupten Tänzen ab, reduzieren Texte, bis ein Gerüst aus unschuldigen Worten stehen bleibt, über die sich meditieren lässt wie über ein Haiku.
Dabei geht es weniger um Verstehen als um eine Intensivierung von Erfahrung – die gewohnten Koordinaten von Raum und Zeit werden auf den Kopf gestellt. Doch nichts verschwindet bei Goat Island endgültig: Wenn am Schluss Litó Walkey zu Elvis‘ „Great Pretender“ kess wie ein Musical-Sternchen tanzt, dann schaut ihr zwischen den zackigen Gesten jener verloren geglaubte Tanz gebrochen melancholisch über die Schulter.
Marga Wolff
Nächste Vorstellungen: Fr+Sa, 20.15 Uhr, Kampnagel
Zwei Frauen und vier Männer sitzen auf Stühlen nebeneinander und unterhalten sich. Drei von ihnen sprechen Deutsch, eine Frau switcht gekonnt zwischen Deutsch und Englisch, zwei reden nur Englisch – und trotzdem scheinen sich alle zu verstehen: „Amerikaner schlafen doch oft mir ihrem Hund in einem Bett.“ „So what!“ Die deutsche Frau erzählt von einer Freundin, die ihren Hund sogar küsst. Das finden alle eklig, darauf können sie sich einigen.
Seltsam, der Beginn von Und jetzt/And now der Regisseurin Sabine Harbeke, die in der Schweiz und in Amerika arbeitet. And now sind sieben Szenen, die sich kurz nach dem 11. September 2001 in Amerika, aber auch in Hamburg abspielen könnten. Harbeke stellt ihre allesamt brillanten Darsteller in ein karges Bühnenbild. Bespielt wird ein weißer Boden, auf dem ein kleiner Fernseher steht, der mal amerikanisches Sendungen, mal Nichtempfangs-Schnee zeigt. Linkerhand befindet sich eine große Leinwand, auf der stille Großstadtbilder zu sehen sind, und hinten leuchten Buchstaben, die angeben, wer gerade auf der Bühne steht. Dabei geht es namenlos zu: „Eine Frau/Schwester“ oder „His Brother/One/Husband“. Die gerade nicht spielenden Akteure sitzen hinten an einem großen Tisch, sind alsozeitweise ebenfalls Publikum.
Die sieben Episoden erzählen von Leuten, deren Schicksale eng mit dem 11. September verwoben sind. Da ist die Frau, die gleichzeitig Ehemann und Lover verloren hat und sich ihr Glücksgefühl verschafft, indem sie Leute anfährt, damit die das Leben neu zu schätzen lernen: „Meistens sind sie dankbar, dass ihnen nichts Schlimmeres zugestoßen ist!“ Da ist ein Mann, der überfallen wurde und nie mehr nach draußen will. Es gibt einen spinnerten Dichter, der für zwei Euro Gedichte nach Bedarf schreibt und auf einen Mann trifft, der kein Gedicht kaufen, aber mit ihm Bier trinken will. Wunderbar auch der Bruder aus Dresden, der seine Schwester in den USA besucht und erleben muss, dass ihr amerikanischer Ehemann seinen Geburtstag in seinem Büro feiert, auf dessen Aussicht er besonders stolz ist: „It is a kick to look out here. For everybody, right?“, sagt er zum verdutzten Bruder und blickt voller Stolz auf den Ground Zero.
And now, das im November auch in den USA gespielt wird, ist ein Stück, in dem sehr viel geredet wird. Was diese Arbeit aber von anderen ähnlich gelagerten unterscheidet, ist die wohltuende Lakonie, die fast allen Episoden innewohnt und das Pathos auf ein Minimum beschränkt. Der manchmal aufblitzende, tiefschwarze Humor wirkt wohltuend. Das Premierenpublikum spendete eine Menge Applaus.
Barbara Schulz
Nächste Vorstellungen: Fr–So, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße