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Archiv-Artikel

Die Schule verliert, das Land gewinnt

Für seine Exschüler wird er immer „unser Ruppi“ bleiben, für die Kollegen immer „der Chef“. Leute, die ihn nicht kennen, zweifeln an ihm. Wer ihn kennt, weiß: Holger Rupprecht wird ein guter Bildungsminister in Brandenburg. Eine Laudatio

„Er ist ein echter Mannschaftsspieler, der auf Fouls verzichtet“

VON FELIX WADEWITZ

Seit Monaten hatte er sich auf die Reise gefreut. „Lassen Sie sich verwöhnen“, wünschte ihm eine Kollegin am letzten Schultag. Da wusste Holger Rupprecht schon: Kuba muss warten. Seine Frau flog alleine in die Herbstferien.

Einige Tage später ernannte Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) den Schulleiter des Potsdamer Humboldt-Gymnasiums zum neuen Chef des Bildungsressorts. Das kleinste Gymnasium der Landeshauptstadt stellt damit zum zweiten Mal in Folge den Minister: Rupprecht-Vorgänger Steffen Reiche ist dort Absolvent.

Während eines Handballspiels habe der Regierungschef Rupprecht überredet, stand in den Zeitungen. Das stimmt zwar nicht, aber es liest sich schön. Was stimmt: Rupprecht leitete ehrenamtlich den Handballverein 1. VFL Potsdam. In dieser Funktion war er Mitglied der „Sportlerrunde“ um Platzeck. Mit dabei: Die Präsidenten der Fußballclubs SV Babelsberg 03 und Turbine Potsdam, Rainer Speer, SPD-Strippenzieher und neuer Finanzminister, und Günter Baaske, Ex-Sozialminister und neuer SPD-Fraktionschef.

Rupprecht wuchs in Gadebusch in Mecklenburg auf, wollte eigentlich Meeresbiologe werden, kam dann aber Anfang der 70er-Jahre nach Potsdam und studierte Sport und Geografie an der Pädagogischen Hochschule. Dort wurde er wegen seiner Körpergröße „der Lange“ genannt. Nach dem Studium unterrichtete der Krimifan („Henning Mankell“) und Musikliebhaber („Deep Purple“, „Led Zeppelin“) an verschiedenen Schulen. Von 1991 an leitete er das Humboldt-Gymnasium. Seit Juli war Rupprecht außerdem Präsident des Potsdamer Rotary-Klubs. Vor zwei Wochen holte Platzeck den ehemaligen Zehnkämpfer und späteren Volleyballer in das neue Kabinett, seit einer Woche ist der neue Minister im Amt.

Einen Tag hat er nach der telefonischen Anfrage Platzecks gezögert, erzählt Rupprecht. Dann war er wild entschlossen, die Herausforderung anzunehmen. „Das werde ich schließlich nur einmal im Leben gefragt.“ 24 Stunden vor seiner Vereidigung übergab Rupprecht die Leitung des Gymnasiums an seine Stellvertreterin. Carola Gnadt war gerade aus dem Türkei-Urlaub zurück, da hörte sie die Stimme ihres Chefs auf dem Anrufbeantworter, der sie in die Schule bestellte. Warum, wisse sie ja aus den Zeitungen. Wusste sie aber nicht. „Ich war fassungslos“, sagt die Lehrerin. „Wir werden ihn vermissen.“ Die Schule verliert, das Land gewinnt.

Ruhig, offen, nahbar, bodenständig, natürlich – das sind die Attribute, mit denen Kollegen und Schüler Rupprecht beschreiben. Der 51-Jährige, stets gut gekleidete BMW-Fahrer mit den grauen Haaren hat die Ausstrahlung eines Richard Gere und den Optimismus eines Jürgen Klinsmann. Bei einem Tag der offenen Tür flüsterte eine Besucherin ihrem Nachbarn zu: „Ist das ein Ossi oder ein Wessi? Er zieht sich an und redet wie ein Wessi – aber er ist so herzlich.“ Sein Charme bewirke, dass alle Mütter ihre Kinder auf das Humboldt-Gymnasium schicken wollen, scherzt eine Pädagogin. Nach einer Podiumsdiskussion mit TV-Star Günther Jauch und dem heutigen Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo vor zwei Jahren meinte eine junge Lehrerin: „Das ist das erste Mal, dass der Chef nur der zweitattraktivste Mann im Raum ist.“ Wer ihre Nummer eins und drei sind, ließ sie offen.

Sein Charisma erlaubt Rupprecht einen moderierenden Führungsstil. Der Mann kann seine Leute von guten Ideen überzeugen, er hat es nicht nötig, auf den Tisch zu hauen. So setzt er Pläne durch, ohne Verlierer im eigenen Team zurückzulassen. „Ein echter Mannschaftsspieler, der auf Fouls verzichtet“, sagt die Politiklehrerin Marion Seitz. „Er wird ein Minister, der weiß, was Lehrer in den vergangenen Jahren geleistet haben.“

Und wenn es kracht, ist Rupprecht ein Meister im Konfliktmanagement. Manchmal kamen Eltern mit Tränen in den Augen und Wut im Bauch zu ihm – ihre Kinder waren trotz guter Noten nicht in die neuen Klassen aufgenommen worden. Und als die Eltern wieder aus dem Büro kamen, war aller Zorn verflogen.

Tatsächlich ist die Beförderung nur auf den ersten Blick die Riesenüberraschung, für die sie gehalten wird. Als Platzeck einen neuen Admiral für die brandenburgische Schulflotte suchte, hatte er die Wahl: ein Parteisoldat aus dem Innendienst oder der erfolgreiche Kapitän eines Flaggschiffes? Platzeck entschied sich für den Kapitän. „Ich hätte das Amt nicht angenommen, wäre es an eine Parteimitgliedschaft gebunden gewesen“, sagt Rupprecht. Schließlich hat er vor zwei Jahren in einem Interview gesagt: „Ich wünsche mir weniger Parteipolitik in der Politik.“ Einen späteren Eintritt in die SPD schließt er aber nicht aus.

Führungsstärke, Menschenkenntnis, Fachwissen, Erfahrung – genügt das, um statt für 40 Lehrer und 560 Schüler für 23.000 Lehrer und 330.000 Schüler die Verantwortung zu übernehmen? Die Frage diskutieren derzeit die Angestellten des Bildungsministeriums. „Warum denn ausgerechnet er?“, fragen sich vor allem Mitarbeiter aus der für die Schulen zuständigen Abteilung. Schließlich habe Rupprecht keine politische Erfahrung und wisse nichts über das Gerangel „da oben“, den Einfluss der Lobbyisten, die Querschüsse der Parlamentarier und die Macht des neuen Finanzministers Speer, der überall sparen wolle. Vor dem hat Rupprecht aber keine Angst. Klar, Speer sei für alle Minister der wichtigste Mann bei den Verhandlungen um das Geld. „Aber keine Sorge, ich werde mich schnell in das politische Geschäft einarbeiten.“

Rupprecht will die von seinem Vorgänger eingeleiteten Reformen fortführen. Das Wichtigste sei zunächst die Fusion der Gesamt- und Realschulen zu einem neuen Schultyp mit dem alten DDR-Namen „Oberschule“. Die Schulen erhalten mehr Freiheiten und können selbstständig über ihre Schwerpunkte entscheiden. In zwei Jahren wird dann die Schulzeit für Abiturienten von dreizehn auf zwölf Jahren verkürzt. Die von der SPD favorisierte sechsjährige Grundschule soll dabei die Regel bleiben. Auf dem Stundenplan wird deshalb mehr Unterricht stehen, auch am Nachmittag oder an Samstagen. Besonders begabte Kinder will Rupprecht fördern, sie können schon nach der vierten Klasse auf das Gymnasium wechseln. Dort sollen sie künftig auch von jüngeren Lehrern unterrichtet werden. „Ich habe selbst erlebt, wie frustrierend es ist, einen Referendar mit guten Ideen zu verlieren, weil es keine Lehrerstellen gibt.“ Das soll geändert werden. Wieder eingeführt werden die Kopfnoten, die das Arbeits- und Sozialverhalten bewerten.

„Ich will die Stimmung an den Schulen verbessern und Lehrer motivieren“, sagt der Minister. Er weiß, dass es schwierig wird, im Ministeramt Everybody’s Darling zu bleiben. Trotzdem: „Ich hab’ nicht vor, mich zu ändern.“ Seinen kollegialen Führungsstil will er auf jeden Fall beibehalten. Denn er weiß: Auch im Ministerium ist er nur so gut wie die Mannschaft hinter ihm.

Dass sein Stil funktioniert, das hat Rupprecht in Potsdam bewiesen: Der Name Humboldt-Gymnasium ist für die Bildungsstadt Potsdam das, was Schloss Sanssouci für die Tourismusstadt ist: ein Aushängeschild. Das gute Klima zwischen Lehrern und Schülern ist legendär. Rupprecht konnte nur so gut sein wie die Lehrer seiner Schule. Das wusste er. Während Lehrer am Konkurrenzgymnasium frustriert sind vom Führungsstil ihres Vorgesetzten, können Humboldt-Pädagogen Freiräume nutzen. „Der Chef hat die Stärken der Kollegen erkannt und gefördert“, sagt Rupprecht-Nachfolgerin Gnadt. „Er hat uns vertraut und wir ihm.“ Gnadt sagt „Chef“, aber es klingt nicht nach „Boss“, sondern wie der Kosename eines Freundes.

Rupprecht war begeisterter Pädagoge und stolz auf seine Schüler – so steckte er die Kollegen an. Dieser Führungsstil hat die Schule zu dem gemacht, was sie heute ist: Obwohl es immer weniger Kinder gibt, wollen jedes Jahr mehr Schüler Humboldtianer werden, als es Plätze in den neuen Klassen gibt. Den Pisa-Test hat die Schule freiwillig mitgemacht und hervorragende Ergebnisse erzielt. Ob Mathe-, Musik-, Biologie-, Latein- oder Sport-Wettbewerbe: Humboldtianer sind oft unter den Siegern.

Rupprecht geht es aber nicht nur um Ranglisten und die Vermittlung von Lernstoff. „Wichtig für ihn war die Bildung der Persönlichkeit“, erinnert sich Nicole Dathe. Die Absolventin des Humboldt-Gymnasiums sagt: „Er hat mich geprägt, ist ein Vorbild, dem schickt man auch nach seiner Schulzeit gerne eine Postkarte aus dem Urlaub.“ Hatte die Schülersprecherin Dathe ein Problem, ist sie schnurstracks in das Büro des Direktors gegangen. Sprechzeiten gab es nicht. Die Tür von „Ruppi“, wie ihn die Schüler und Absolventen nennen, stand immer offen. „Er nahm uns ernst“, sagt Dathe.

Seine Unterstützung für außerschulisches Engagement war nicht nur rhetorisch. Veranstaltete das „Kleine Symposium“ eine Podiumsdiskussion, bot Rupprecht sich persönlich an, bis in die Nacht zu bleiben, um die Aula abzuschließen. Und fehlten Schüler eine komplette Woche, weil sie Deutschland im Europäischen Jugendparlament vertraten, war die Freistellung schnell geklärt. Die erste Begegnung mit Rupprecht hatte Dathe, bevor sie in die Schule kam. Der Schulleiter sprach jedes Jahr mit hunderten Schülern und deren Eltern, um die neuen Humboldtianer auszuwählen, ein schneller Blick auf das Zeugnis der Bewerber reichte ihm nicht.

„Letzte Frage, Herr Minister. Wo wären Sie jetzt, wenn sie ihren ersten Berufswunsch – Meeresbiologe – verwirklicht hätten?“ – „Hm“, sagt der Minister, „ich schätze: auf der ,Calypso‘ im Mittelmeer.“

Der Autor hat 2002 sein Abitur am Humboldt-Gymnasium gemacht und war dort drei Jahre Schülersprecher