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Archiv-Artikel

Allianz für die Familie

Frauen und Männer haben nicht die freie Entscheidung zwischen Familien- und Erwerbsarbeit

von WARNFRIED DETTLING

Das Buch kommt äußerlich bescheiden daher, was Titel und Aufmachung betrifft. Es geht um erwerbstätige Mütter und ihre Probleme. „Schon wieder eine Minderheit, eine Problem- und Randgruppe“, werden vor allem jene denken, die das wichtige Buch ganz besonders intensiv lesen müssten.

Doch der Eindruck täuscht. Es gibt „Sonder“-Themen, an denen die Gesellschaft über ihre eigene Zukunft verhandelt: Wie wollen wir morgen leben? Wenn es nicht gelingt, die soziale Architektur so zu verändern, dass mehr Frauen zu der Erwerbsarbeit und mehr Männer zu der Familienarbeit einen attraktiveren und anerkannten Zugang finden, dann wird das Land nicht nur demografisch, sondern auch ökonomisch in naher Zukunft gegen die Wand fahren. Die Lebensqualität der Menschen wie die soziale Qualität der Gesellschaft wird schon vorher dramatisch gesunken sein.

Es geht in dem Buch wie in der Gesellschaft um das Verhältnis Staat, Markt und Familie.

In acht Beiträgen haben Forscherinnen aus verschiedenen Ländern die europäischen Wohlfahrtssysteme verglichen und die Alltagspraxis von erwerbstätigen Müttern untersucht. Die Herausgeberinnen verweisen im einleitenden Beitrag vor allem auf die kulturellen Faktoren: auf Normen, Leitbilder und Hintergrundbotschaften. Neben sozialpolitischen Leistungen und einer Infrastruktur für Betreuung bestimmen diese kulturelle Faktoren das unterschiedliche Erwerbsverhalten von Frauen in Europa und innerhalb eines Landes, etwa zwischen unterschiedlichen sozialen und Bildungsschichten. In Deutschland (West) haben solche Hidden Curricula wahrscheinlich verhindert, was dann nicht mehr viel Geld bringen konnte: Kinder und Familien. Aber auch über die Dilemmata der verschiedenen normativen Modelle gibt sich kaum jemand öffentlich Rechenschaft.

Es ist nicht das geringste Verdienst dieses Bandes, mit beiden Tabus gebrochen zu haben. Besonders deutlich geschieht das in dem Beitrag „Erwerbstätigkeit versus Betreuungsarbeit“ von Jane Lewis, Professorin für Sozialpolitik in Oxford. Wenngleich das Ernährermodell nur für einen historisch kurzen Zeitraum, nur in einigen Ländern und hauptsächlich für Frauen aus der Mittelschicht Realität war, so hat es doch als Norm und als Modell für die längste Zeit des 20. Jahrhunderts eine beträchtliche Wirkungsmacht ausgeübt. Es war ein Modell, so argumentiert sie, in dem Männer für Erwerbsarbeit und Familieneinkommen und Frauen für Haus-, Pflege- und Betreuungsarbeit zuständig waren: „Für beides war gesorgt“ – aber um den Preis der Abhängigkeit der Frauen von einem männlichen Ernährer. Entsprechend wurden sie von der Sozialpolitik auch behandelt, als „abhängige Angehörige der Männer.“

Zwischenzeitlich haben sich die Leitbilder geändert. Die EU und einige Mitgliedstaaten wie Großbritannien und die Niederlande bekennen sich ausdrücklich zum adult worker model. Es basiert auf der Annahme, dass alle erwachsenen erwerbsfähigen Personen einer bezahlten Beschäftigung nachgehen. Das neue Leitbild mache Frauen frei und gleichberechtigt, weise aber, so die Autorin, eine entscheidende Leerstelle auf, nämlich „die gesellschaftlich notwendige Arbeit der Betreuung und Pflege von Kindern und alten Menschen“. Ernährer- und Adult-Worker-Modell gingen von falschen Annahmen aus: dass die Frauen nichts lieber täten, als zu Hause zu bleiben, oder dass sie nichts lieber täten, als zu arbeiten, auch wenn sie Kinder haben.

Beide Modelle weisen auch eine normative Schwachstelle auf: Das eine übersieht den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, das andere übersieht den Wunsch, sich um andere zu kümmern, was Zeit braucht (time to care). Zudem übersieht es die Notwendigkeit, dass Menschen Zeit und Zuwendung anderer brauchen: Es leben ja schließlich nicht nur starke, unabhängige und „fertige“ Individuen auf der Welt, „die niemals Kinder waren und niemals sterben“ (Norbert Elias). Auch Ute Gerhard rekonstruiert die kulturellen Leitbilder in der Wohlfahrtspolitik. Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass die Individualisierung der Frauen nicht männlichen Mustern folgt oder folgen sollte“. Ihre Lebenspraxis „macht Mütter zu Expertinnen einer sozialen Praxis, auf die die Gesellschaft für ihren Fortbestand angewiesen ist“.

Damit ist die Frage formuliert: Wenn das alte Modell erodiert, wenn das neue Modell keine „Zeit zum Sorgen“ (Christel Eckart) lässt, wie müssten dann Arrangements und Rahmenbedingungen aussehen, damit Zuwendung nicht zu Abhängigkeit und Unabhängigkeit nicht zum Austrocknen sozialer Beziehungen führt? „Haben Frauen auch das Recht zu entscheiden, dass sie lieber zu Hause bleiben wollen, um die Betreuung und Pflege ihrer Angehörigen zu übernehmen?“, fragt Lewis, „und wenn ja: Müssen sie sich zwangsläufig in die Abhängigkeit eines männlichen Einkommens begeben, sofern sie sich so entscheiden?“ Richtige Fragen, aber warum nur in Richtung Frauen? Ohne eine Umverteilung von Zeit wird es nicht gehen. In Deutschland arbeiten mehr Männer eine längere Vollzeit und mehr Frauen eine kürzere Teilzeit als anderswo. In Schweden dagegen werden die beiden Väter-Monate von rund 75 Prozent der Väter genutzt.

Derweil es die meisten Politiker lieber im Ungefähren lassen, an welchem Leitbild sie sich orientieren, mendeln sich neue Muster heraus, vor allem das Anderthalb-Verdiener-Modell. Ute Klammer vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung hat in zwei anregenden und informativen Beiträgen die breite Vielfalt in Europa beschrieben, was die Erwerbsbeteiligung von Frauen betrifft oder die Art und Weise, wie erwerbstätige Mütter ihre „Betreuungspakete schnüren“.

Alles in allem: ein wichtiges Buch, wissenschaftlich solide, eine Steilvorlage für die Politik und für eine neuartige „Allianz für die Familie“, an der auch die Ministerin Renate Schmid arbeitet. Staat und Wirtschaft müssen mehr tun, wenn eine bessere Balance zwischen Leben und Arbeit gelingen soll. Der kulturelle und gesellschaftliche Wandel freilich, der auch das Verhalten der Männer erfasst, dürfte sich als das hartnäckigste Hindernis auf diesem Weg erweisen.

Ute Gerhard u. a. (Hg.): „Erwerbstätige Mütter. Ein europäischer Vergleich“. Verlag C. H. Beck, München 2003, 256 Seiten, 14,90 €