: Konsenszwang in der Dunkelkammer
Nach der Ablehnung des Bundesrats liegt das Schicksal der Agenda 2010 jetzt in den Händen eines umstrittenen Gremiums
BERLIN taz ■ Nicht das Parlament, sondern 32 Männer und Frauen bestimmen über Deutschlands Zukunft. Die Entscheidung fällt in Berlin, nicht weit entfernt vom Potsdamer Platz, in der Leipziger Straße 3. Hier, hinter der neoklassizistischen Fassade des Bundesratsgebäudes, tritt am 13. November der Vermittlungsausschuss zusammen. Dann wird im Saal 1128 bis spät in die Nacht verhandelt – hinter verschlossenen Türen, abgeschottet von Partei und Öffentlichkeit. SPD-Fraktionschef Franz Müntefering spricht deshalb von der „Dunkelkammer Vermittlungsausschuss“. Dreimal soll sich das Gremium bis Mitte Dezember treffen. Erst danach wird feststehen, ob und wie der geplante Umbau des Arbeitsmarkts oder die Steuerreform tatsächlich Wirklichkeit wird.
Immer dann, wenn sich Bundesrat und Bundestag nicht auf ein Gesetz einigen können, müssen die 32 Mitglieder des Vermittlungsausschusses zusammenstückeln, was nicht zusammenpasst. In jüngster Zeit wird die Runde, die ursprünglich nur gelegentlich tagen sollte, mit Arbeit zugeschüttet. Seit der Hessenwahl vom April 1999 hat die Union die Mehrheit im Bundesrat – und nutzt diese, um der rot-grünen Regierung Zugeständnisse abzuringen. Jedes Mal, wenn der Bundesrat einen zustimmungspflichtigen Gesetzentwurf ablehnt, schlägt die Stunde des Vermittlungsausschusses. In ihm kann keine Seite die andere überstimmen. Konsens ist Pflicht. Kritiker sprechen daher von einer faktischen großen Koalition.
Kein Wunder also, dass in dem Gremium hartgesottene Verhandlungsführer aufeinander treffen. 16 Abgeordnete des Bundestags und 16 Vertreter der Länder loten in zäher Kleinarbeit eine Einigung aus. Auf den Fluren warten ganze Kompanien von Juristen und Beamten, um einen möglichen Konsens auf Rechtmäßigkeit und Konsequenzen zu prüfen. Für die Länder kommen die Ministerpräsidenten selbst. Ihnen bietet der Vermittlungsausschuss die Gelegenheit, sich so wirksam wie sonst selten in die Bundespolitik einmischen zu können.
Die mächtigen Männer im Ausschuss sind die parlamentarischen Geschäftsführer der großen Fraktionen im Bundestag. Wilhelm Schmidt (SPD) und Volker Kauder (CDU) führen die Verhandlungen, an ihrer Seite haben sie erfahrene Parlamentarier. Sie müssen abwägen, wo die Grenze für eine Einigung liegt und was sie ihren Fraktionen noch zumuten können. Denn wenn sie nach vielen Stunden die quälenden Verhandlungen verlassen, müssen sie den mühsam gefundenen Kompromiss ihren Parteifreunden erklären – und diese müssen ihn in der Regel schlucken.
Der Grund: Über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses wird im Parlament nicht mehr debattiert. Den Abgeordneten bleibt nichts anderes übrig, als mit Ja oder Nein zu stimmen. Besonders die Mitglieder der Regierungsfraktionen sitzen dann in der Zwickmühle. Sie müssen für ein Gesetz stimmen, das sie möglicherweise kaum wiedererkennen – oder es ablehnen und ihre eigene Regierung bis auf die Knochen blamieren. Besonders Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) setzt daher darauf, SPD und Grüne im Vermittlungsausschuss zu möglichst vielen Zugeständnissen zu zwingen – und damit den SPD-Linken ihre Zustimmung so schwer wie möglich zu machen.
Dafür, dass es trotz dieser Sticheleien am Ende zu einem Konsens kommt, soll die Geheimhaltung des Vermittlungsverfahrens sorgen. Sie ist der beste Schutz gegen die Versuchung, sich öffentlich zu profilieren. Andererseits wird der Ausschuss genau deswegen als „fünfte Gewalt“ (Der Spiegel) kritisiert. Auch der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof nennt das Gremium skeptisch einen „Nebengesetzgeber“. Denn die Protokolle der Verhandlungen werden frühestens 2010 veröffentlicht. Erst dann erfährt die Öffentlichkeit, wie die Entscheidung über die Agenda 2010 tatsächlich abgelaufen ist.
Doch auch die Macht der fünften Gewalt hat ihre Grenzen: Im Ausschuss darf nur das behandelt werden, was zuvor in Bundesrat und Bundestag als Entwurf vorgelegen hat. Eigenmächtige Beschlüsse, die darüber hinausgehen, hat das Bundesverfassungsgericht im Dezember 1999 ausdrücklich untersagt. In dem Urteil hieß es, der Vermittlungsausschuss dürfe eine Änderung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur dann vorschlagen, „wenn und soweit dieser Einigungsvorschlag im Rahmen des Anrufungsbegehrens und des ihm zugrunde liegenden Gesetzgebungsverfahrens verbleibt“.
Eine Entscheidung über die Agenda 2010 soll am 10. Dezember fallen. Für diesen Tag ist die letzte Sitzung des Ausschusses anberaumt. Ob es dann tatsächlich zu einer Einigung kommt, liegt vor allem in den Händen des Auschussvorsitzenden. Den Posten wird zu diesem Zeitpunkt Henning Scherf (SPD) innehaben, der Bürgermeister der Hansestadt Bremen. Dort leitet Scherf seit Jahren eine große Koalition. ANDREAS SPANNBAUER