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Archiv-Artikel

In fremde Welten springen

Vorsicht, Feenalarm! Die Märchenerzähler sind in der Stadt. Bereit, in jedes willige Ohr verführende Worte zu träufeln

Einmal im Jahr erwacht das Märchen aus seinem Dornröschenschlaf. Dann nämlich, wenn die Berliner Märchentage versuchen, die Erzähltradition des Märchens wieder aufleben zu lassen. Das ist schwer, denn der Kuss eines Prinzen zieht heute nur noch bedingt. Märchen haben ihre Anziehungskraft schon lange an Comics und Computerspiele abgegeben. Es überrascht deshalb auch nicht, dass auf vielen Veranstaltungen der Märchentage, wenn zum Beispiel nur vorgelesen wird, ganze Schulklassen wegnicken. Erstaunlicher ist da schon, dass es unter den 650 Veranstaltungen dennoch Programme gibt, bei denen Kinder begeistert mitgehen und am Ende sogar „Zugabe“ rufen.

So gehört bei der Aufführung des „Staatlichen Theaters Nordgriechenlands“ aus Thessaloniki im „Carrousel-Theater“ am Wochenende. Italien und Griechenland sind Schwerpunkt der 14. Märchentage. Das Theater aus Thessaloniki führte „Das unsterbliche Wasser“ auf, die Geschichte vom todkranken König, der nur durch das Wasser des Lebens gerettet werden kann. Sein Sohn zieht trotz aller ihm prophezeiten Gefahren aus, um es seinem Vater zu holen. Er besteht denn auch alle Abenteuer und erhält als Belohnung das Königreich und eine schöne Jungfrau vom Ende der Welt.

Sicher ist die Geschichte so oder so den meisten bekannt, und die Inszenierung überrascht auch nicht durch eine aktualisierende Interpretation. Ihre Stärke liegt vielmehr in der Verzauberung des Zuschauers. Statt das Märchen in die heutige Zeit herüberzuholen, wird der Zuschauer in die alte Zeit zurückversetzt. Zu Beginn der Vorstellung fährt eine Puppenspielerin mit ihrem fahrbaren Theaterkasten in die Geschichte hinein. Ihr Geplänkel mit dem Perkussionspieler auf der Bühne unterstreicht den Jahrmarktcharakter der ganzen Szene. Doch schon ändert sich das Bild, Kulissen klappen wie die Deckel eines alten Buches auf, und die Gestalten treten einem lebendig vor Augen. Die Kostüme der Schauspieler und die märchenhaft bemalten Leinwände versetzen die Zuschauer mit einem Mal in das Zeitalter der Renaissance. Wenn der König am Tisch speist und sich seine Familie malerisch um ihn herum gruppiert, würde man am liebsten in das Bild hineinspringen, um an der anderen Zeit teilnehmen zu können.

Doch wenn auch die Bilder mittelalterliche Meister sehr genau nachempfinden, sie geben immer nur etwas preis, um die Fantasie anzuregen und nicht abzutöten. Ein ornamental bedrucktes Tuch sagt mehr über den Reichtum aus, als es die Kulisse eines Palastes tun würde, und der Schatten eines Fensters an der Wand entwirft kurzerhand das Studierzimmer eines alten Weisen. Ohnehin ist es die Kunst der Andeutung, die das Märchen hier aus der Erstarrung löst. Das schnelle Pferd ist aus Luft, die dem Prinzen drohende Gefahr wird durch das Bild eines Waldes und das Geklapper von Hufen imaginiert, aus Puppen werden Schauspieler und aus Schauspielern Scherenschnitte hinter einem Wandschirm. Auch inhaltlich werden Märchenmotive nur angedeutet. Da die einzelnen Motive aber den meisten Zuschauern ohnehin bekannt sein dürften, reicht es völlig aus, dass der Kampf mit den bösen Ungeheuern, die das Wasser bewachen, mit zwei Schwertstreichen erledigt ist, und das Wasser selbst überhaupt nicht gezeigt wird. Zu sehen ist lediglich ein silbern glitzernder Baum, der sich aus dem Wasser speist. Was trotz oder gerade wegen der bloßen Andeutungen bleibt, ist der unverstellte Blick auf den durchaus aktuellen Symbolgehalt des Märchens: Leben bedeutet, die eigenen Grenzen zu überschreiten.

ANNETTE KAUTT

Die Märchentage finden noch bis zum 16. November statt. Programmhefte gibt es in Bibliotheken oder Buchläden