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Archiv-Artikel

Kleines Bremer Konversationslexikon

Manchmal machen auch die wortkargen Bremer den Mund auf und pflegen höflichen Small Talk. Wer mitreden will über den Langen und sein Faible für Hechte, bekommt hier die wichtigsten Informationen, um nicht als Zugereister identifiziert zu werden

Das Wetter

Darüber spricht man zwar überall, aber normalerweise eben nur so, wie man halt übers Wetter redet. Für Geisteswissenschaftler: Jakobson nennt derlei Small Talk „die phatische Funktion der Sprache“.Warum? Egal. In Bremen ist das mit dem Wetter ohnehin was ganz anderes. In Bremen werden Gespräche übers Wetter ernst genommen. Wer Wetterbeobachtungen aufzeichnet, wie einst der Bremer Wilhelm Olbers, erwirbt sich dadurch Anspruch mindestens auf einen Straßennamen. In Bremen spricht man am besten nur übers Wetter. Stundenlang. Das liegt an alten verschütteten Schifffahrertraditionen: Das Wettergespräch ist hier ein Gespräch übers Wesentliche. Über Herzensangelegenheiten. Über die eigene Befindlichkeit. Und die ist schlecht. Das Mentalwetter in Bremen ist dauerbewölkt, keine der durchschnittlich 1.900 Sonnenstunden – das sind nur 200 weniger als in Freiburg im Breisgau – findet Erwähnung. Das liegt daran: Was schief läuft, spricht man besser nicht an. Zumindest nicht öffentlich. Im Tagebuch, okay. Klagen – außer übers Wetter – ist völlig unhanseatisch.

Großekoalition

auch große Koalition. Wird wahlweise mit einem Seufzen oder augenrollend erwähnt, ist aber die Erfüllung des Bremer Wesens, weil sie jeden Streit so angenehm wattiert. Dazu muss man wissen: Bremer haben eine ganz eigene Beziehung zu ihrem Stadtmotto. Das lautet: „buten un binnen, wagen un winnen“. Frei übersetzt heißt das: Sowohl drinnen als auch draußen, wer wagt, gewinnt – und beschreibt sehr exakt, wie der Bremer gerne wäre, aber wie er eben nicht ist: weltoffen und kühn. Stattdessen ist er aber verschlossen, selbstbezogen – und harmoniebedürftig. Deshalb hat man sich eines Tages in Bremen in einer so großen Koalition eingerichtet, dass der kleine Koalitionspartner (CDU) sogar mit dem Versprechen auf Erhalt des vom großen Partner (SPD) gestellten Senats-Chefs (➞ Scherf) für sich werben kann. Innere Opposition dagegen kommt in der gepflegten Unterhaltung deshalb gut an: Also ruhig einflechten, dass es wegen der Großenkoalition hier an Streitkultur mangelt. Wer als politische Avantgarde gelten will, sagt mitunter, dass Schwarz-Grün auch eine Option sein könnte und lässt die Namen Jens Eckhoff (der junge dicke Mann der CDU, Bau- und Umweltsenator) und Karoline Linnert (Grüne, Fraktions-Chefin) fallen. Damit jedoch vorsichtig sein, Abtönungspartikel „mitunter, vielleicht, unter gewissen Umständen“ empfehlen sich ebenso wie mimisch-gestische Ironie-Signale, die zahlreichen denkbaren Reibungspunkte (➞ Schlammpeitzger) müssen erwähnt werden.

Kanzlerbrief

(➞ Scherf, ➞ Sparen) Als Wiederbelebung der totgeglaubten reinen Metaphysik Bremens bisher bedeutendster Beitrag zur Philosophiegeschichte. Ersterwähnung ungewiss, genannt werden weiche Daten wie „Sommer 2000“. Wortlaut: unbekannt. Inhaltlich soll es sich bei dem Schriftstück um eine Zusage des Bundeskanzlers Gerhard Schröder handeln, sich um das Bremer Haushaltsloch zu kümmern. Die verlautbarten Angaben über die darin zugesagte Summe sind von jährlich 300 Millionen (September 2002) auf zuletzt „549 Millionen Euro“ gestiegen, die der Finanzsenator als jährliche Kompensationszahlung bis 2007 in seinem Haushaltsplan fest verbucht. Vom Kanzlerbrief immer mit fester Stimme und strahlenden Auges sprechen: Er ist Bremens ganze Hoffnung und Zuversicht. Der Glaube an ihn Dogma. Dank des Briefgeheimnisses das wirksamste Instrumentarium gegenseitigen Machterhalts zwischen Absender und Empfänger seit Erfindung des Gottesgnadentums: Bremer wählen Schröder, weil unklar ist, ob es sich um eine private Zusage unter Parteifreunden oder eine amtliche Rückversicherung durch den Kanzler handelt. Andererseits haben selbst die christdemokratischen Parteifürsten bekundet, Henning Scherf so lange im Amt des regierenden Bürgermeisters sehen zu wollen, bis der Kanzlerbrief eingelöst ist (➞ Großekoalition).

Scherf, Henning

Bürgermeister (Literatur: Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies, Princeton 1957; Marc Bloch, Les rois thaumaturges, Paris 1924, 1983). War früher mal links, verkörpert jetzt die Großekoalition (➞ Großekoalition). Sein Trumpf: Scherf besitzt den Kanzlerbrief (➞ Kanzlerbrief) und gilt, wenn nicht als Erfinder, so doch als virtuoser Anwender des Bremer Sanierungsmodells (➞ Sparen). Das kommt an: Die „Bild“ bezeichnet Scherf als „Top-Sanierer mit großem Herz“ . Dazu passt sein ostentativer Protestantismus: Der Bürgermeister will den evangelischen Kirchentag nach Bremen holen. Wer ihn nicht mag, hat schlechte Karten in Bremen. Freunde wie die Grass-Stiftung bekommen hingegen mitunter von Scherf Staatsknete zugesteckt, ohne sich wehren zu können. Größte politische Leistung: Duldet mitunter die Existenz eines Parlaments (heißt hier Bürgerschaft). Umarmt alles, was sich bewegt und ist wahnsinnig lang: Die Flucht auf Bäume ist daher zwecklos. Achtung! Wirkt zwar so, ist aber gar nicht auf Drogen!

Schlammpeitzger

auch Schlammpeizger (misgurnus fossilis) Aktuell Bremens wichtigstes Tier. Um mitreden zu können muss man wissen: Der Schlammpeitzger hat einen walzenförmigen Körper, der vorne fast drehrund ist und hinten seitlich etwas zusammengedrückt. Die Haut ist schleimig. Die Mundsparte ist eng und unterständig, die vordere Nasenöffnung röhrenförmig. Außerdem ist der Fisch geschützt. Alles weitere im Proseminar Zoologie. In Bremen kommt der Schlammpeitzger im vorderen und auch im hinteren Hollerland vor – direkt hinter der Uni, auf der anderen Seite der Autobahn – obwohl die Großekoalition vereinbart hatte, nur Letzteres als Umweltschutzgebiet nach Brüssel zu melden und den Rest für einen Technologiepark platt zu machen (➞ Sparen). Auch Umweltsenator Jens Eckhoff ist dafür, was zu Konflikten mit den Grünen geführt hat (➞ Großekoalition). Henning Scherf (➞ Scherf, Henning) hingegen wollte den Schlammpeitzger mit Hechten bekämpfen. Derzeit sucht die Großekoalition deshalb fieberhaft nach anderen Gebieten in Bremen, in denen der Schlammpeitzger vorkommt, um sie anstelle der Hollerland-Feuchtwiesen nach Brüssel zu melden. Bislang erfolglos.

Space Park

auch Space Center. Bremens Vorzeige-Investition, zusammen mit einem privaten Musical-Theater (heute staatlich) und einem so genannten Ocean Park (nicht realisiert) Anfang der 90er Jahre mit Subventionen auf den Weg gebracht (➞ Sparen). „Ganz sicher, dass das Space Center ein Erfolg wird“ war sich Bürgermeister Henning Scherf (➞ Scherf, Henning) noch, als der überdachte Weltraum-Rummelplatz in Gröpelingen (Bremen-West) nach zehn Jahren Planung und Bau im Februar 2004 feierlich eröffnete. Nach offizieller Darstellung hat im Grunde nie jemand das Space Center gewollt. Man war halt gezwungen, es zu bauen, wegen der Touristen. Nach offizieller Darstellung hat das Land Bremen 150 Millionen Euro in das Projekt investiert. Hinfahren lohnt sich, auch wenn man längst nicht mehr reinkommt: Wie die drei anderen Großinvestitionen aus Scherfs Regierungszeit hat das Space Center das erste halbe Jahr seines Bestehens nicht überlebt. Geblieben ist ein Großkino inklusive Imaxx, das sich dank toller Mietkonditionen weiterhin an dem Standort hält. Schuld am Scheitern des Gesamtprojekts: die Touristen. Die sind einfach nicht gekommen.

Sparen

Das ist das Bremer Key-Word schlechthin. Man braucht Grundkenntnisse in Theologie, um die Bedeutung des Sparens zu verstehen. Wissen muss man: Bremen ist protestantisch. Genauer: calvinistisch. Auf ihren Grundsatz verkürzt bedeutet calvinistische Ethik: Wer Geld hat, hat das auch verdient. Die Folge: Man muss zeigen, dass man Geld hat. Dann gilt man als gut. Das geht ganz leicht. Einfach ausgeben, mit vollen Händen, je mehr desto besser (➞ Space Park). Das führt allerdings in den Ruin. Würde der amtlich, wäre man ein Sünder, dem ewige Verdammnis droht. Das will man nicht. Also braucht man Gegenstrategien: hoffen und beten (➞ Kanzlerbrief). Und tätige Reue. Das heißt auf Bremisch: lauthals sparen. Zu sagen, man müsse sparen, bedeutet nämlich, zu den eigenen Verfehlungen zu stehen und im selben Atemzug den Willen zur Besserung zu geloben. Das macht wahnsinnig sympathisch und – praktisch, praktisch – kostet nix. Gleichzeitig solidarisiert man sich preiswert mit jenen in den Ecken, Enden und sonstigen Rändern, an denen man spart und schließlich und endlich spart man noch etwas für eigene, zentrale Zwecke und Vorhaben (➞ Scherf). Der Erfolg des Bremer Sparmodells: Die Schuldenlast ist deutlich gestiegen, aber alle haben das Gefühl vermittelt bekommen, dass Kürzungen an Sozial-, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen einer inneren Notwendigkeit gehorchen, um das Seelenheil zu retten.