: Auf dem Weg zu Undine
630 Kilometer auf dem Radwanderweg von Berlin nach Kopenhagen. Sechs Tage radeln auf Asphaltstraßen, laubbedeckt, mit Lärchennadeln, auf gespurten Wiesenböden, Kies- und Schotterwegen, Sandpisten, fest oder weich, gepflasterten Trassen
VON ANJA HELMBRECHT
Nach Kopenhagen! Ja, das ist unser Begehr. Und der Monat September, der nahe liegende Regen, der das rasche Wechseln der obligaten Regenverschalung nötig machen wird, vermögen unsere Absicht nicht zu hemmen, ebenso wenig wie der Nebel am Morgen oder der strenge Wind über den nun brachliegenden Feldern nahe dem Meer, weder die garantierten Druckstellen noch die übersäuerten Muskeln.
„Glaube nicht an die Märchen, die man über uns erfunden hat: wir töten niemanden, wir schenken nur die Liebe.“ (Hans Christian Andersen) „Sie aß nur Lebendiges; oft tauchte sie aus dem Meere auf – der zarte Rücken glänzte in der Sonne – während ihre Zähne einen silberschuppigen, noch zuckenden Fisch zerrissen.“ (Lampedusa) Die kleine Meerjungfrau ist verschwunden! Die Bronzeplastik, die bei jedem Wetter friedlich auf ihrem Stein im Hafen hockt und zur gegenüber liegenden Raffinerie blickt, diese Undine, das Wahrzeichen der dänischen Metropole, die auch an Hans Christian Andersen erinnert; diese kleine Meerjungfrau sei ins Wasser gegangen, heißt es, aber nicht freiwillig. Ob nun zurück in die Tiefen des Meeres oder als Schaumgewordene zu den Töchtern der Luft, das bleibt offen. Jedenfalls entnehmen wir ihr Verschwinden dem Vermischten kurz vor unserer Abreise, zuerst amüsiert gelassen, doch sollte aus dem Amüsement schnell die tägliche Motivation für unser Weiterkommen wachsen: Ob sie wohl zurück sein würde, wenn wir Kopenhagen erreichen?
Das Wetter ist prächtig, allen Befürchtungen zum Trotz. Wir fahren bei strahlendem Sonnenschein in spätsommerliche Landschaften hinein. Gleiten dahin, 630 Kilometer weit, beim Aufschreiben der Zahl wird mir ganz schwindelig. Die Bauern, die uns am Wegrand ihre dicken Äpfel schenken, prophezeien uns ein Wiedersehen im nächsten Jahr, und sei es ausschließlich der Baumfrucht wegen. Je weiter wir kommen, umso selbstverständlicher wird das Fahren, wir tauchen immer tiefer ein in die Bewegung und in die Landschaft, ihre Farben und Gerüche, bald beginnen sich die Eindrücke zu überlagern, alles fließt in sattem Strom bei konstanter Geschwindigkeit.
Die Bodenbeschaffenheit ist das, worauf sich die fortbewegende Aufmerksamkeit nun konzentriert: Asphaltstraßen, laubbedeckt, mit Lärchennadeln gesprenkelt oder nackt, Waldböden, auf denen die ersten Eicheln und Kastanien knacken, gespurte Wiesenböden; Kies- und Schotterwege, Sandpisten, fest oder weich, gepflasterte Trassen, aus Kieseln oder Kopfstein und jede denkbare Variation davon.
Wir nehmen die Strecke in sechs Tagen. Das Gewusel durch die Berliner Innenstadt schenken wir uns, wir folgen lieber gleich dem Lauf der Havel. Oranienburg, letzter S-Bahnhof in Berlins Norden, ist unser Ausgangsziel. Der Weg ist hervorragend beschildert, richtungweisende Pfeile inklusive Kilometerangaben – schon fast inflationär geklebt ist das Symbol des Radwanderwegs Berlin–Kopenhagen, eine stilisierte Meerjungfrau, an allen Orientierungspunkten weithin sichtbar. 2001 eröffnet, von dänischer und deutscher Seite gleichermaßen geplant, versucht auch dieser Radwanderweg die Attraktivität der Regionen aufzuwerten.
Kurz vor Fürstenberg/Havel, am Rande Brandenburgs, führt der Radweg durch das Gelände des KZ Ravensbrück, heute Mahn- und Gedenkstätte. Schiefe Wachtürme, Zäune, Texttafeln, die den jeweiligen Standpunkt erläutern. Kraniche fliegen. Oder balzen zu hunderten auf den Feldern. Sie rüsten sich für den Abflug in wärmere Gefilde. In gekonnten Formationen flattern sie mit weichen Schwingen über uns hinweg. Den Chinesen sind sie Boten des Glücks und der Unsterblichkeit.
Ankershagen liegt am Rande des Müritz-Nationalparks. Wir erreichen das 150- Seelen-Nest nach 40 langen Kilometern vergeblicher Suche nach einer Tasse Kaffee. Es gibt sie nicht, zu früh der Morgen für die mecklenburgische Gastronomie. In Ankershagen erblickte Heinrich Schliemann das Licht der Welt und in seinem Geburtshaus brüht uns jetzt der frisch gebackene Museumsdirektor einen Kaffee auf. Weltläufigkeit in einer der beiden Schliemann-Forschungsstätten weltweit. Die andere ist in Athen; Athen und Ankershagen, was für ein Paar! Wir gucken uns um. Ein altes Pfarrhaus, von einem großen Garten gesäumt. Apfelbäume auf der Wiese. Das Trojanische Pferd steht als Rutschbahn für Jung und Alt im Garten. In Waren an der Müritz dann die ersten wirklich frischen Fische.
Nach langen Waldpassagen in der Nossentiner Schweizer Heide und einige Naturschutzgebiete weiter erreichen wir den Belliner Steintanz: ein archaischer Ort kurz vor Güstrow, zu dem wir uns mühsam einen Hang auf rutschigem Sandboden quälen. Mürrisch plagen wir uns den Waldweg entlang, durchbohren mit unseren Blicken jede noch so kleine Steinformation, wollen wir doch belohnt sein für unsere Mühe. Am Ende des Waldes akzeptieren wir, dass der Kreis unerkannt bleiben will. Beschwingt und wieder ziemlich kraftvoll setzen wir unsere Fahrt fort. Kurz vor Güstrow lächelt uns das Barlachmuseum am Inselsee entgegen, woraufhin wir versprechen, dem gusseisernen Engel des vielseitig Begabten im Backsteindom einen Besuch abzustatten. Dort hängt und schwebt er im nördlichen Seitenschiff und rauscht wie immer mit halb geschlossenen Augen anderen Sphären entgegen.
Als wir nach der bisher längsten Etappe endlich den Rostocker Hafen erreichen, ist das letzte Schiff gerade weg. Das nächste geht erst in der Nacht. Jetzt heißt es: Entscheidung. Fahren wir, erschöpft wie wir sind, die 15 Kilometer zurück in die Hansestadt oder bleiben wir im Hafen. Wir entscheiden uns fürs Bleiben und kommen im Bistro Terminale unter, einer Zufluchtstätte vereinsamt Wartender, die eines teilen: die Sehnsucht, weiterzukommen. Träge hängen wir in dem neonbeleuchteten Glaskasten ab, verfolgen unsere Schatten über Bier und Würstchen.
Im Hafen von Dänemark, im nächtlich verlassenen Örtchen Gedser, schläft bei unserer Landung wirklich alles. Kein Hund bellt. Selbst die Straßen vor den puppenstubengroßen Häuschen wirken in sich zusammengezogen wie Blumen, die erst beim ersten Anzeichen von Tageslicht wieder bereit sein werden, ihre Kelche zu öffnen. Die stolze Fahnenformation, beflutlichtet immerhin, ist das Einzige, was sich hier bewegt. Sie lässt unser Schwarz-Rot-Gold im Winde flattern. Diese Inversion, die wir müde zwinkernd registrieren, markiert den Beginn der dänischen Etappe.
Wir rollen vorbei an dänischer Einfamilienhausidylle, alles Selbstversorger, hat es den Anschein, so verlassen stehen die Herbergen zwischen den Feldern. Bis Kopenhagen werden wir kein mehrstöckiges Haus mehr sehen. Dazwischen Feriensiedlungen und vereinzelte Häuseransammlungen, wenige Ortschaften. Es geht dahin. Die sonnengeflutete Herbstlandschaft gleicht der Mecklenburg-Vorpommerns, mit dem Unterschied, dass hinter jeder Biegung das Meer aufblitzt. Tiefblau funkelt es am Ende einer Waldlichtung durch die Zweige, zeigt sich zwischen parzellierten Grundstücken, hinter Dünenabschnitten und eng gestellten Alleen. Das sich abwechselnde Licht- und Schattenspiel und die sich immer mehr gleichenden Eindrücke schläfern uns ein; gern lassen wir uns von der Monotonie des Vorwärtstretens mehr und mehr berauschen.
Von Lolland fährt uns ein freundlicher Schiffer auf die Insel Bogø; der Fährverkehr ist seit wenigen Tagen auf Winterfahrplan umgestellt, sodass es keine reguläre Verbindung mehr zwischen den Inseln gibt. Bogø beschert uns die erste windige Inselbrücke, von der aus wir die Insel Møn erreichen. Von hoch oben haben wir einen weiten Blick, kein Ort zum Verweilen, der Wind bläst zu doll. Die Städtchen, durch die wir jetzt kommen, sind klein; in der Erinnerung werden sie noch einmal kleiner. Jedes verfügt über einige Prachtbauten aus vergangener Zeit, überall werden Softeis und Hot Dogs verzehrt. Über Stege, Praesto, Rødvig, Køge und das herrliche Renaissanceschloss Valløby segeln wir, durch die Anstrengung nun leicht geworden, unserem Ziel vom Meer her entgegen. Kopenhagen erreichen wir glücklich zur Nacht. „Übers Wasser gebeugt, beinah aufgegeben. Die Welt ist schon finster, und ich kann die Muschelkette nicht anlegen.“ (Bachmann)
Die kleine Meerjungfrau ist noch nicht wieder aufgetaucht. Ihr alter Sitzplatz im Hafen macht einen ziemlich verlassenen Eindruck. Jemand hat eine welkende Rose hinübergeworfen. Dass sich einige Schaulustige aufgefordert fühlen, als Substitut zu fungieren, davon erzählen wir nicht, aber vom reisefreudigen Märchenerzähler. Von ihm heißt es, er habe stets einen Strick bei sich getragen, um sich im Falle drohender Gefahr abseilen zu können. Selbst wenn jetzt alle Stricke reißen, dieser hält die Verbindung zur kleinen Meerjungfrau aufrecht.
Information: Radweg Berlin–Kopenhagen, Radwanderkarte 1:75.000, BVA 2002www.bike-berlin-copenhagen.com