Funkelnde Scherben

Der Autor und sein Preis

VON WILHELM GENAZINO

Schriftsteller, die sich für einen Literaturpreis bedanken, machen selten einen beschwingten Eindruck. Verlegen erkundigen sie sich, ob nicht eine Verwechslung vorliegt, ob der Preis nicht einem anderen Autor zugedacht ist. Erst dann zeigen sie ihre Rührung, betonen dabei ihre Überraschtheit. Ein Literaturpreis, kann das sein? Die Verlegenheit ist echt. Über viele Jahre hat sich kaum jemand um sie gekümmert; die Auflagen ihrer Bücher waren und sind niedrig, die Verkaufszahlen noch niedriger. Die Rezensionen ihrer Bücher sind zwar oft positiv, aber die Autoren haben bemerkt, daß gute Besprechungen nicht unbedingt einen guten Verkauf nach sich ziehen. Zu Lesungen wurden sie immer seltener eingeladen. Manch einer muß sich von seinem Verleger sagen lassen, daß es mit seinen Büchern so nicht weitergeht. Gemeint sind nicht die Bücher, sondern der Autor selber.

Künftig, so läßt man ihn wissen, werde man sich von Autoren, deren Bücher sich nicht wenigstens 6000mal verkaufen lassen, leider trennen müssen. Ins Ökonomische übersetzt heißt das: Autor, hau ab. Quasi als begleitende Maßnahme haben die Autoren in den Zeitungen immer wieder das Lamento von der Arroganz ihrer Bücher lesen müssen. Viele der Lamentatoren haben auch gleich die passenden Abgesänge dazu geschrieben. Und plötzlich hatte die Literatur einen schlechten Leumund; sie galt und gilt als unverständlich, elitär, publikumsabgewandt, überheblich und deswegen belanglos fürs gesellschaftliche Ganze.

Die meisten Autoren haben den Befund zerknirscht, aber gefaßt hingenommen. Einigen ist es gelungen, aus der Randlage eine Art kultureller Verzweiflung zu machen, von der sie neu erzählen können. Die anderen zeigen sich nur um den Preis einer kleinen Verwirrung in der Öffentlichkeit. In ihrer Lage ist ein Literaturpreis ein überfallartig auf sie einstürzender Akt der Umerziehung. Denn der Preis stellt das Lamento, an das sie sich schon gewöhnt hatten, mit einem Schlag auf den Kopf; er schreibt ihrer Arbeit nicht nur einen allgemeinen, sondern gleich einen besonderen Sinn zu. Sie haben sich plötzlich um alles mögliche verdient gemacht. Es gibt nicht eine einzige Preisurkunde, die ihrem Träger nicht weitreichende Meriten um Kultur, Ethik, Gemeinschaft oder Literatur bescheinigt. In der Regel auf teurem, sozusagen ewig haltbarem Pergamentpapier.

Wie soll sich der perplexe Preisträger diese Wende erklären? Der Nebel wird eher noch dichter, wenn wir freimütig zugeben, daß die Personen, die die Texte der Urkunden verfassen, oft die gleichen sind, die in den Medien die Abgeschlagenheit der Literatur beklagen. Sie gehören zum Personal unserer sich immer neu fortzeugenden Kulturschizophrenie, an der nun –genau das hätte sich unser Autor nie träumen lassen – auch er selber teilhat. Er kann sich jetzt nicht länger nur mit seinen eigenen Zerrissenheiten beschäftigen. Jetzt, als Preisträger, ist er in den Zellkern der Kultur selber eingedrungen und bastelt an deren Spaltungen mit.

Von der schizoiden Lage der Kultur erfährt unser Autor meist noch während oder kurz nach der Preisverleihung. Er sitzt jetzt in einem noblen Restaurant; links von ihm hat ein Mitglied des Kulturausschusses Platz genommen, rechts von ihm der Bürgermeister. Sie gratulieren ihm noch einmal, und in der humorigen Art, für die die beiden Politiker bekannt sind, geben sie zu, daß sie keines der Werke des Preisträgers gelesen haben, obwohl sie im Kulturausschuß für deren Auszeichnung eingetreten sind.

Die erste Merkwürdigkeit ist, daß die Kulturpolitiker das Zwielicht ihrer Rolle nie wahrgenommen und also auch nie problematisiert haben. Die zweite Merkwürdigkeit ist, daß der zwischen ihnen sitzende Autor das für die Politiker bestimmte Schuldgefühl sofort als das seine anerkennt. Erst jetzt geht ihm auf, daß er mit der Annahme des Preises auch die Pflicht übernommen hat, die sonderbare Kulturleere der Politik in der Öffentlichkeit zu erklären, zu mildern, zu geißeln, auf jeden Fall: darzustellen. Das öffentliche Lob substituiert die nicht stattfindende Kulturdebatte in den Preis, und das heißt: in den intellektuellen Echoraum des Preisträgers. Er ist nun ein Problem-Stellvertreter geworden, und er wird künftig den Konflikt über Wert und Wertlosigkeit der Kultur austragen, den er bis dahin nur von außen wahrgenommen hatte.

Schon zwei Wochen später, bei seiner nächsten Lesung, fängt er damit an. Man weist jetzt vor Beginn seiner Veranstaltung darauf hin, daß er neuerdings Literaturpreisträger ist. Das Publikum schweigt beeindruckt, wenn auch beklommen. Auch diese Verlegenheit ist echt. Das Publikum hat schon von vielen Literaturpreisen gehört. Aber es hat sich bis jetzt niemand gefunden, der dem Publikum einmal erklärt hätte, ob der Moerser Literaturpreis wichtiger ist als der Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar oder ob beide Preise vielleicht bedeutungslos sind. Das sind Distanzwerte, über die man bei uns nicht spricht. Auch unser Autor findet nur langsam heraus, wie ihn sein eigener Preis einschätzt. Sogar bei eindeutig wichtigen Preisen kann es geschehen, daß sie durch besondere Umstände an Bedeutung einbüßen oder zunehmen.

Wird zum Beispiel der Georg-Büchner-Preis an einen zu alten Autor verliehen, verliert auch dieser Preis an öffentlichem Gewicht. Man kann dann die Meinung hören: Autor X hätte den Preis vor fünfundzwanzig Jahren bekommen sollen, als Autor, Werk und Zeit noch adäquater aufeinander bezogen waren. Prompt erscheint der Preis ein bißchen wie eine Wiedergutmachung, als nachgereichter Präsentkorb – und verliert an Wert. Wird der Büchner-Preis dagegen an einen für diese Ehrung zu jungen Autor verliehen, erhöht dessen Jugendlichkeit plötzlich das Ansehen des Preises. Und der Preisträger hilft mit bei der Vertreibung des Altherren-Images, dessen die Preisstifter so oft bezichtigt werden.

Diese Widersprüche und Paradoxien haben eines gemeinsam: Sie verschwinden nicht. Im Gegenteil, sie verhärten sich, je länger sie andauern. Sie lassen sich kritisieren, verhöhnen, lächerlich machen oder wegphantasieren, aber bei der nächsten Preisverleihung sind sie wieder da. Ich phantasiere gelegentlich diesen Tagtraum: Die besten Schriftsteller sollten dann und wann den Mut haben, ein gescheitertes Buch zu veröffentlichen. Es sollte erkennbar die Handschrift des Meisters zeigen, aber es sollte ebenso erkennbar unfertig und unausgegoren sein. Nur ein solches Buch hätte die Potenz, die eingespielten Verstrickungen außer Kraft zu setzen, jedenfalls für eine Weile. Ich bin sicher, die Schubladen unserer Schriftsteller sind gefüllt mit Texten, die mit dem Stigma des Scheiterns behaftet sind und deshalb ängstlich zurückgehalten werden. Dabei wollen wir diese vom Band der Routine heruntergefallenen Texte lesen, vielleicht sogar lustvoller als die anderen, die als wohlgeraten empfunden werden. Wir müssen uns nur daran erinnern, daß Schreiben immer eine Auseinandersetzung mit früheren Annahmen über das Schreiben ist und daß ein gescheiterter Text nichts weiter zeigt als den Zusammenprall einer für veraltet gehaltenen mit einer neu anmutenden Schreibweise – einen Zusammenprall, den der sogenannte gelungene Text künstlich glättet und nivelliert, was wir dann „Form“ oder „Stil“ nennen. Schriftsteller, die immer nur gut austarierte, sozusagen geschminkte Texte veröffentlichen, kommen mir vor wie mein Obsthändler auf dem Wochenmarkt, der die fleckigen, eingedrückten, formlosen Birnen und Äpfel und Pfirsiche gar nicht erst auf seinem Tisch ausbreitet.

Aber der Schriftsteller im Spätkapitalismus hat wie jeder Obsthändler und wie jeder Autokonzern die Regeln des Geschäfts verinnerlicht: Er drängt auf ein zumutbares Verhältnis von Investition und Ertrag, von Anstrengung und Gelingen, von Verausgabung und Ergebnis. Und leider hält sich auch der Kulturbetrieb (nicht ganz, aber doch fast ganz) an diese Regeln: prämiert wird nur, wenn das Kunstwerk über den Umweg seines Erfolgs die Möglichkeit seines eigenen Mißlingens hat vergessen machen können. Den Notausgang aus diesem Kreislauf finden wir nur, wenn Autoren wenigstens dann und wann ihr Purpurmäntelchen nicht anlegen und uns statt dessen die Abschürfungen und Prellungen ihres Schreibens zeigen. Natürlich gäbe es dafür keine Preise, jedenfalls nicht sofort. Aber keine Angst! Nach einer Weile würde der findige Betrieb das neue Paradigma erkennen und reichlich belohnen.

Freilich müßten die ungeratenen Bücher gut gekennzeichnet sein. Es bieten sich kleine Aufkleber an: Vorsicht! Gescheiterter Roman! Achtung! Mißratene Gedichte! Dann wüßten wir sofort, daß wir mit dem Inhalt delikat, aber auch befreit umgehen dürften. Endlich könnten wir ohne Schuldgefühl die Ahnungslosigkeit der Politiker teilen. Die Autoren müßten sich nicht mehr mit der Frage quälen, ob ein literarischer Einfall politisch progressiv, aber ästhetisch reaktionär ist –oder umgekehrt. Kein Zögern hielte uns mehr davon ab, den Zufall als geheimen Herrscher der Kultur nicht nur zu erdulden, sondern auch anzuerkennen.

Auch für Kritiker hätte das Eingeständnis des Scheiterns große Vorteile. Haben wir nicht ohnehin das Gefühl, daß zu viele von ihnen nur etwas von Büchern verstehen, zu wenige etwas von Literatur und so gut wie keiner etwas vom Schreiben? Deswegen sind sie ja so heftig auf angeblich wohlgeratene Bücher fixiert. Bei einem Buch, das auf der Banderole seine Schwäche gesteht, wüßten sie gleich, daß es sich nur um ein Zwischenwerk für ein noch zu schreibendes weiteres Buch handelt. Die Banderole würde sie daran erinnern, daß das Prinzip des Schöpferischen (wie andere Naturvorgänge auch) zyklisch voranschreitet. Kunst machen heißt Fehlschlägen nachschauen. Neu wäre dann nur, daß es ein paar Schriftsteller gäbe, die die Spuren der Fehlschläge nicht mehr beseitigen.

Sie merken, meine Idee ist nicht nur spaßig gemeint. Von den Gesprächen und Debatten, die wir miteinander führen, wissen wir schon lange, daß die schiefgelaufenen unter ihnen die Regel sind und die gelungenen die Ausnahme. Nur der gelingende Diskurs ist der Grund, warum wir für die mißlingenden soviel Geduld haben. Warum wollen wir diese wunderbare Kulturerfahrung nicht auch für Romane und Gedichte gelten lassen? Für das Schreiben gilt dasselbe wie für das Sprechen: Die gelungene Äußerung ist die Ausnahme, die mißlungene die Regel. Schreibweisen sind Existenzweisen.

Wenn wir den Mut hätten, anstelle der Werke (dann und wann, nicht immer) die ihnen vorausliegenden Schreibweisen zu tolerieren, das heißt den Text in der Bewährung, die scheitern darf, dann könnten wir auch zubilligen, daß es noch andere als die auf raschen Erfolg fixierten Schreibweisen gibt. Wir könnten öffentlich machen, was an sich alle wissen, was im erfolgsneurotischen Paradigma aber immer wieder unter die Räder kommt, daß jedes Werk nur der Kompromiß seiner zahllosen Varianten und Werksplitter ist. Es gilt der Satz von Mallarmé: „Ein Buch beginnt nicht und endet nicht, es täuscht allenfalls Anfang und Ende vor.“

Wenn wir diesen Satz nicht immer nur theoretisch ernst nehmen, sondern ihn in die Alltagspraxis des Schreibenden übertragen, wo er auch hingehört, dann müssen wir uns die Figur des Autors als einen radikalen Heimwerker vorstellen. Radikal heißt: Er arbeitet ohne Muster, ohne Werkzeug, ohne Erfahrung, ohne Übersicht, ohne Verläßlichkeit, ohne Berechnung, ohne Plan – aber er arbeitet. Obwohl wir spätestens seit Hölderlin von diesen schwankenden Gründen wissen, muß der Autor nach wie vor – besonders bei Preisverleihungen – den Schein eines Virtuosen hervorzaubern, das Bild eines Dompteurs mit glücklich gelungenen Werken. Andernfalls kann er vor dem Horizont der bürgerlich-kleinbürgerlich organisierten Kultur nicht bestehen – und kriegt keinen Preis.

Wer den riesigen Nachlaß von Ingeborg Bachmann kennt, kann sich leicht eine Vorstellung davon machen, welche fast übermenschliche Mühe es diese Autorin gekostet hat, aus der fortlaufenden Wucherung ihres Werks einzelne Partien und halbwegs stimmige Blöcke auszugliedern, damit sie, versehen mit den läppischen Portionstiteln „Roman“ oder „Erzählung“, ihre Reise in die geordnete Lesewelt antreten konnten. Leider hatte auch diese wagemutige Autorin nicht die Kühnheit, einzelne Bauteile ihres Riesenromans nach der Dynamik ihres Entstehens, und das heißt: als für sich stehende Textriffe, zu veröffentlichen.

Ich erinnere an den unglücklichen Wolfgang Koeppen, der über Jahrzehnte hin damit fertig werden mußte, daß Kritiker, die – ich wiederhole: – so gut wie nichts vom Schreiben verstehen, von ihm einen Roman haben wollten. Jetzt, nach seinem Tod, lesen wir von einem Plan, mit dem sich Koeppen eine Weile beschäftigt hat. Er wollte einen „Roman aus lauter Anfängen zusammensetzen, ohne jede zeitliche oder logische Ordnung, einfach einer Erinnerung an Augenblicke, in der Hoffnung, aus der Anhäufung der Scherben am Ende doch ein Ganzes zu gewinnen. In diesem Fall alles vom Ich aus und dieses Ich als der zentrale Spiegel.“

Wolfgang Koeppen hat dieses Projekt leider nicht verwirklicht. Er beugte sich dem Druck einer sogenannten literarischen Öffentlichkeit, der nicht im Traum einfiel, sich nach den Möglichkeiten seines Schreibens zu erkundigen. Das Fragment – Koeppen nennt es die „Scherbe“ – spekuliert noch nicht mit seiner eigenen Lesetauglichkeit. Das Fragment ist der Text, der uns sein Zittern zeigt. Das Zittern ist ein Ausdruck, der vor dem Satz da ist. Erst der Autor macht aus dem Zittern einen Satz und aus dem Satz eine geformte Mitteilung. Jeder Schriftsteller weiß, was er der Form opfert. Ich vermute, wir hätten eine lebendigere Literatur, wenn es den Altar der Form nicht gäbe, von dem allzuviel Text hinten herunterfällt und verschwindet.

Virginia Woolf hat auch einmal an einem Buch ohne Form gearbeitet. Sie nannte es das „Von-der-Hand-in-den-Mund-Buch“. Dieses wundervolle Wort erinnert uns daran, daß Worte und Bücher auch Nahrungsmittel sind, die wir, wie andere Nahrungsmittel auch, nicht ausschließlich nach ihrer Verpackung, nach ihrer Form beurteilen. Meine erste Hoffnung ist, daß es bald Schriftsteller geben wird, die mutiger als Ingeborg Bachmann und Wolfgang Koeppen sein werden. Meine zweite Hoffnung ist, es wird dann auch Mäzene und Jurys geben, die diesen Mut auszeichnen werden. Sie werden der Literatur damit so nah sein wie nie zuvor.

Diesen Text entnahmen wir dem neuen Buch von Wilhelm Genazino, einer Essay- und Aufsatzsammlung: „Der gedehnte Blick“, Hanser Verlag, München 2004, 192 Seiten, 18,90 Euro