Niemand staunt Bauklötze

Der dänische Spielzeugkonzern Lego steckt tief in der Krise. Auch Harry Potter und Star Wars helfen nicht: Die Kinder spielen lieber mit dem Computer als mit den bunten Bauklötzchen

Mario ist gerade fünf Jahre alt geworden und blickt verständnislos in die Welt: Er soll das von Freunden der Eltern geschenkte Lego-Boot zusammenbauen. Mario möchte lieber Jump & Run am Computer spielen. Kann er nicht, oder will er nicht? Immerhin gibt es 102.981.500 verschiedene Möglichkeiten, sechs Legosteine zusammenzusetzen.

Diese Frage dürfte man sich auch in der Chefetage des dänischen Lego-Konzerns stellen: Für das laufende Jahr rechnet man dort mit Verlusten in Höhe von 200 bis 700 Millionen Euro, die mit dem Jahr 1998 einsetzende Krise des Traditionsherstellers aus Billund will einfach nicht aufhören. Dabei hat man doch alles versucht, um nicht den Anschluss an die hochgerüsteten Kinderzimmer zu verlieren. Sogar das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston hat man zu Rate gezogen: Die physikalische Welt sollte mit der digitalen Welt verbunden werden, heraus kamen Legosteine mit integrierten Mikrochips.

Das hat alles viel Geld gekostet, ebenso die weiteren Modernisierungsversuche, etwa Harry-Potter-Lizenzprodukte. Genützt hat es nichts, relativ gut verkaufen lassen sich allenfalls noch die klassischen Bausteine, von denen übrigens rein statistisch jeder Erdenbürger 52 besitzt – was jedoch für die Kinder der zukünftigen Lego-Arbeiter nicht gelten dürfte. In China, also dort, wohin Lego einen großen Teil seiner Produktion verlagern will, basteln die Kinder Handys aus Holz und Autos aus Blechbüchsen.

Gut so, könnte man aus pädagogischer Sicht behaupten, wenn es nicht so zynisch wäre: Um das kindliche Interesse am Kreativspielzeug Lego neu zu erwecken, müsste man das Inventar westlicher Kinderzimmer auf Dritte-Welt-Niveau herunterschrauben. Stattdessen stehen dort Zelte mit Rutschen, ferngesteuerte Autos, Power-Rangers und vor allem: Fernseher, PC und Playstation. Der Overkill muss ermüdend sein.

Interesse besteht dementsprechend hauptsächlich an virtuellen Welten: Es wird auf den Bildschirm gestarrt, was zur Folge hat, dass lediglich der Teilleistungsbereich visuelle Verarbeitung gefördert wird, Grob- und Feinmotorik, Riechen und Fühlen, Atmen und Sprechen werden zunehmend vernachlässigt. Vielleicht ist der kleine Mario tatsächlich gar nicht mehr in der Lage, ein Lego-Boot zusammenzubauen? Zumindest scheint es ihn Überwindung zu kosten, sich von seinen elektronischen Freunden zu emanzipieren.

Douglas Coupland („Generation X“) hatte noch behauptet, dass die Legowelt eigentlich eine Computerwelt sei: „Alle Computertechniker beschäftigten sich in ihrer Kindheit sehr viel mit Lego. Lego war der gemeinsame Nenner dieser Kinder“ behauptete er in seinem Roman „Microsklaven“. Coupland sah in dem einsam mit Lego-Steinen spielenden Kind den Prototyp des späteren Computer-Nerds: dreidimensional, modular, systemisch und binär denkend. Allein: Die heutigen Kinder bauen nun auf dem auf, was die Nerds ihnen zusammengeschraubt haben, sie sind bereits eine Stufe weiter und nutzen den PC als das, was er ist: als Werkzeug. In der Welt des Kindes bedeutet dies: als Spielzeug.

Es sieht also schlecht aus für den Lego-Konzern: Die zukünftigen Konsumenten sind zum einen Kleinkinder, die noch keine Computermaus halten können. Und Erwachsene. Legendär die Lego-Stadt „Vertical City“, die der Schriftsteller Norman Mailer in seiner New Yorker Heimstatt errichtet hat. Laut eigenen Angaben habe er sich bei der Errichtung wie Le Corbusier gefühlt.

Auch für die Manufaktum-Fraktion ist gesorgt: Wer ohne Plastik bauen möchte, greift auf Anker-Steinbaukästen aus dem thüringischen Rudolstadt zurück. In edlen Holzkästen liefert die Firma aus bayrischem Sand, Schlämmkreide und Leinöl gefertigte Steine nebst Bauanleitung. Anker verkauft seine Baukästen sogar in den Vereinigten Staaten, daher gibt es auch das New Yorker Singer-Gebäude als ökologisch wertvollen Bausatz.

Lego-Bausteine jedoch bleiben, was sie sind: ein analoges Spielzeug aus Plastik. Erwachsene sind Lego-begeistert, weil es sie an ihre Kindheit erinnert und ihnen erlaubt, diese in das Erwachsenen-Dasein hinüberzutragen. Für richtige Kinder ist das langweiliger Kinderkram.

MARTIN REICHERT