: berliner szenen Kranzabwurf
Mein 9. November
Der eigentlich 3. Oktober, hörte man am 3. Oktober, sei doch der 9. November. Jenes vierfache Jubiläum des Loderns und Jubelns der ausgelassenen Masse in der Gasse: Novemberrevolution, Hitlerputsch, Pogromnacht, Mauerfall. Echten Volkszorn zieht heute nur noch der heimliche Sozialhilfeempfänger in uns selbst auf sich, der 9. November spielt keine Rolle mehr.
Das historische Datum führt mich zum Friedhof Weißensee, wo vor 60 betagten Zuschauern die Linksparteien ihre Kränze abwerfen. Fachsimpelei am Gedenkstein für die Deportierten: „Du, da steht gar kein Todesdatum“, haben es einige noch immer nicht begriffen.
Die antifaschistische Jugend zieht es zum Mahnmal in der Levetzowstraße. FDJ, KPD & Co. KG demonstrieren an skeptisch dreinblickenden Moabitern vorbei zum Deportationsmahnmal Putlitzbrücke. Zwischen Rot und Schwarz haben einige Leute die Israel-Flagge vereinnahmt. Ein Passant fuchtelt obszön herum und wird von seiner resoluten Freundin zurückgepfiffen: „Ey, Ali, lass doch den Scheiß.“
Meinen 9. November verbringe ich quasi einäugig, da ich mir in der Nacht zuvor am Okular des Spiegelteleskops vom VEB Carl Zeiss Jena in der Archenhold-Sternwarte fast den Augapfel ausgestoßen hätte. Archenholds Frau und Tochter wurden übrigens 1943 nach Theresienstadt deportiert. Von der Mondfinsternis meinte ich nur eine milchige Scheibe zu erkennen. Teleskope, einst genau wie Gedenktage Symbole der Aufklärung, zeigen auch nur, was das Auge sieht. Demgemäß vertraute sich schon unser Nationaldichter Johann Wolfgang dem Mond an: „Was, von Menschen nicht gewusst oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht.“ JAN-HENDRIK WULF