: Die aufgelockerte Stadt
Lange Zeit hat man gehofft, dass die Abrisswelle an Berlin vorbeigeht. Nun fallen in Marzahn die ersten Plattenbauten. Dabei hat die Schrumpfung längst auch den Altbau erreicht. Ein Plädoyer
von UWE RADA
So muss wohl das Paradies aussehen. Sonnenüberflutete Balkone, große Terrassen und Dachgärten, von denen sich der Blick ins Weite öffnet. Moderne Wohnungen, in denen junge, kreative Entscheider leben, und das auch noch zu erschwinglichen Preisen. Mitten in der Stadt und doch schon auf dem Lande. Die „Ahrensfelder Terrassen“ lassen keinen Wunsch offen.
„Planen Sie mit uns Ihre Zukunft“ heißt das Motto für den Bau der Wohnanlage am nordöstlichen Stadtrand der Hauptstadt. Der Blick auf die Gegenwart dagegen ist alles andere als paradiesisch. Die Ahrensfelder Terrassen haben ihren Namen zwar beim Brandenburger Nachbardorf geliehen. In Wirklichkeit aber befinden sie sich mitten in Marzahn.
Mehr noch: Die 409 Wohnungen mit Balkonen, Terrassen und Dachgärten sollen nicht im Neubau entstehen, sondern durch „Rückbau“ leer stehender Elfgeschosser. Entlang der Havemannstraße und der Rosenbecker Straße, wo schon 2004 die Zukunft beginnen soll, stehen heute noch 1.650 Wohnungen. Das Paradies ist ein Abfallprodukt.
Noch vor drei Jahren war sich Bausenator Peter Strieder (SPD) sicher, dass das Thema Abriss anders als in Leipzig, Schwedt oder Hoyerswerda in Berlin nicht auf der Tagesordnung stehen wird. Ein Leerstand von 100.000 Wohnungen, so Strieder damals, sei für Berlin nichts Ungewöhnliches, zumal er sich nicht auf bestimmte Wohnungstypen oder Quartiere konzentriere. Während die Experten im Bundesbauministerium damals an den letzten Einzelheiten des Abrissprogramms „Stadtumbau-Ost“ feilten, verwies man in Berlin auf die Erfolgsgeschichte namens Plattenbausanierung.
Drei Jahre später weiß man es besser. Das Statistische Landesamt beziffert den Wohnungsleerstand in Berlin inzwischen auf 186.000 Wohnungen. Das entspricht 10 Prozent des gesamten Bestandes. In Marzahn-Hellersdorf gibt es 14 Prozent Leerstand, in Marzahn-Nord sogar bis zu 60 Prozent. Damit ist vielerorts schon längst ein kritischer Punkt erreicht. „Stehen in einem Gebiet erst einmal 10 Prozent der Wohnungen leer“, meint Ulrich Pfeifer vom Forschungsinstitut „Empirica“, „kann aus einer Rückzugsbewegung schnell eine Fluchtbewegung werden.“
Entspechend panisch reagiert man in der Bauverwaltung. Der Abriss in der Havemannstraße und der Rosenbecker Straße, der im Dezember beginnt, soll erst der Anfang einer seit der Kahlschlagsanierung in den Siebzigerjahren beispiellosen Abrisswelle sein. Insgesamt stehen in Marzahn 4.000 Wohnungen auf Abriss, in Hellersdorf sind es 1.000. Willkommen, Berlin, im Osten der Republik.
Vierzehn Jahre nach dem Fall der Mauer steht Berlin vor einer neuerlichen Zäsur. Nach dem Abschied von den Metropolenträumen Mitte der Neunzigerjahre gesteht man sich nun ein, dass Berlin nicht nur nicht wächst, sondern im Gegenteil sogar schrumpft. Doch Berlin wäre nicht Berlin, würde es diesen zweiten Abschied von einer Lebenslüge nicht gleich mit einer neuen beantworten. Sie heißt: Berlin hat zwar ein Leerstandsproblem. Aber das konzentriert sich auf die Ostberliner Großsiedlungen. Wenn man nur die Platte platt macht, so spinnt sich diese Lüge weiter, kriegt man schon alles in den Griff.
Ein Blick ins Zahlenwerk des Statistischen Landesamtes zeigt das Gegenteil. Zwar führt Marzahn-Hellersdorf die Leerstandsstatistik an. Doch Neukölln mit 13,8 Prozent und Friedrichshain-Kreuzberg mit 13,7 Prozent folgen schon dicht dahinter. Selbst in Berlin-Mitte stehen 12,4 Prozent der Wohnungen leer.
Dass sich der Leerstand in diesen Bezirken zunehmend auf den Altbaubestand konzentriert, hat Armin Hentschel vom Institut für Soziale Stadtentwicklung beobachtet. Das gelte vor allem für Neukölln. Während der Leerstand in den Neubausiedlungen in Rudow oder Buckow eher gering ist, wächst er in Neukölln-Nord. „Selbst Quartiere wie an der Schillerpromenade, die vor einiger Zeit noch als vermietungssicher galten, haben inzwischen mit wachsenden Leerständen zu kämpfen“, sagt Hentschel. Ein Trend, den man inzwischen auch im Neuköllner Rathaus bestätigen kann.
Zu diesem Trend gehört auch ein zunehmender Bevölkerungsverlust. Zwar hat der Bevölkerungsverlust Berlins vorerst ein Ende gefunden. „Doch spätestens ab 2009 gibt es einen Knick wegen Überalterung“, sagt Petra Reetz, die Sprecherin der Stadtentwicklungsverwaltung. Deutlich mehr Berliner würden dann sterben als geboren werden.
Schon heute stehen rasant wachsenden Quartieren wie in Alt-Pankow langsam schrumpfende Stadtviertel gegenüber. Diese Schere wird laut Bevölkerungsprognose des Bausenators bis 2015 noch weiter auseinander gehen. Marzahn zum Beispiel wird dann 14,4 Prozent Einwohner gegenüber 1998 verloren haben, Alt-Mitte 7,5 Prozent, Friedrichshain 7,5 Prozent, Prenzlauer Berg 6,6 Prozent, Neukölln 3,5 Prozent und Kreuzberg 2,9 Prozent. Dass der Bevölkerungsverlust in den Westbezirken nicht so hoch ausfällt, ist einzig und allein der Geburtenrate der nichtdeutschen Bevölkerung zu verdanken.
Krise? Chance? Paradiese nicht nur in Marzahn, sondern auch am Hermannplatz?
Mitinichten. Wie sehr Berlin seine ehemalige Vorreiterrolle in Sachen Stadtentwicklung verloren hat, zeigte zuletzt der Bundeswettbewerb Stadtumbau-Ost. Von den 269 eingereichten Stadtumbaukonzepten gewann das des Bezirksamts Marzahn-Hellersdorf zwar einen von zehn ersten Plätzen. Doch ansonsten landete Berlin im Mittelmaß.
In anderen Denkwerkstätten wie zum Beispiel dem vom Bundesbildungsministerium finanzierten Zukunftsprogramm „Stadt 2030“ sind zwar Städte wie Bremen, Stuttgart, München, das Ruhrgebiet und selbst Beeskow vertreten, aber die Bundeshauptstadt fehlt. Und dort, wo Berlin wie etwa beim Programm soziale Stadt beteiligt war, bewies die Bauverwaltung, dass ihr zum Thema außer dem Schlagwort „Quartiersmanagement“ nichts einfiel. Dessen Abschaffung fordern inzwischen sogar die Grünen.
Die Diskussion um die Zukunft der Städte findet längst woanders statt. In Leipzig zum Beispiel, wo der Leerstand längst die Innenstadt erreicht hat. Angesichts der 40 Prozent leer stehender Wohnungen im Gründerzeitquartier Leipzig-Ost experimentieren Architekten wie Stefan Rettich mit völlig neuen Bildern der Stadt. Eines davon ist das „Kern-Plasma-Modell“, in dem die Stadtstruktur auf den Erhalt der urbanen Kerne reduziert wird, die sie umgebenden Räume dagegen frei verfüg- und nutzbar sind. Ähnliche Bilder von Stadt hat auch der Architekt Philipp Oswalt im Rahmen des von den Bundeskulturstiftung finanzierten Forschungsprojekts „Schrumpfende Städte“ entworfen. Weidende Schafe zwischen den Gründerzeitblöcken sind auf den Baustellen der Zukunft längst kein Tabu mehr.
Was wäre eigentlich schlimm daran, wenn das „Paradies als Abfallprodukt“ auch das Berliner Zentrum erreichte? Zumal in Zeiten, in denen der Glaube ans Wachstum längst dem Blick auf blinde Fensterscheiben gewichen ist? Würden damit nicht neue Räume, auch für die Fantasie, geschaffen?
Würde das Bild einer aufgelockerten Stadt nicht einen Weg aus dem Dilemma weisen, es ernst nehmen mit der Bewältigung der Krise, anstatt sie erneut zu verdrängen? Aufgelockerte Stadt, das hieße auch, locker, irgendwie lässig. Ein Durchatmen, ohne dass die Stadt, wie in den Siebzigerjahren, ihr Gesicht verlöre. Die aufgelockerte Stadt würde Grünzüge durch die Blöcke ebenso ermöglichen wie zusammengelegte Innenhöfe, Flächen für Bauwagensiedlungen, Kleingärten, Kinderbauernhöfe. Sie wäre Stadt als eine Mischung aus Wohnort und urbanem Abenteuerspielplatz, ganz nach dem Motto von Kurt Tucholsky: Vorne die Friedrichstraße und hinten die Ostsee.
Die aufgelockerte Stadt wäre nicht nur eine Alternative zur Suburbanisierung, weil sie Familien, die die Einöde am Stadtrand längst satt haben, wieder in die Stadt zurücklocken könnte. Sie würde selbst neue Wachstums- und Zuwanderungsschübe ohne weiteres verkraften können. Schließlich kann das Plasma, wie es der Leipziger Architekt Stefan Rettich sagt, jederzeit wieder zum Kern werden.
In Berlin dagegen ist die Auflockerung der Stadtstruktur kein Thema. Mehr noch: Die Rettung der Gründerzeitstadt durch Stadtteilgruppen und Hausbesetzer hat den Abriss einzelner Hinterhäuser und Seitenflügel mit einem Tabu belegt. Es ist diese Allianz von Abrissgegnern und neuen Urbaniten, die neue Denkansätze in Berlin nach wie vor behindert und dafür sorgt, dass der Abrissbagger nur dort sein Werk verrichtet, wohin er ohnehin schon immer gewünscht wurde.
Ein Blick auf den Leipziger Osten aber zeigt, wohin solche Ignoranz führen kann. Auch Armin Hentschel vom Institut für soziale Stadterneuerung plädiert deshalb für behutsame Entkernungen. „Das ist die einzige Möglichkeit, dem weiteren Verfall in Quartieren wie Neukölln-Nord entgegenzuwirken.“
Allzu optimistisch ist Hentschel allerdings nicht. Nicht nur „weil wir es uns noch immer bequem machen, mit dem Finger auf die Platte zu zeigen“. Eine Auflockerung der Stadtstruktur im Altbau würde auch dadurch erschwert, dass ein Rückbau angesichts einer Vielzahl von Eigentümern nur schwer umsetzbar ist. „Viele Eigentümer“, sagt Hentschel, „verzichten auf Investitionen in die Zukunft und vermieten lieber, solange es geht.“
Für ein urbanes Paradies kann es dann allerdings zu spät sein.