: Haus ohne Hüter
Mit seinen Iglus wurde der italienische Künstler Mario Merz zum Aushängeschild der Arte Povera. Heute sind sie weltweit in Museen zu sehen, doch für Merz blieb bis zuletzt die Frage gültig: „Was machen?“ Am Sonntag ist er mit 78 Jahren gestorben
von HARALD FRICKE
Er sitzt in einer Bibliothek. Im Hintergrund ledergebundene Bücher, vor ihm auf dem Tisch ein Glas Cognac. Mario Merz scheint sich wohl zu fühlen, denn er redet und redet, holt mit der linken Hand weit aus, fährt mit ihr durch die Luft, zeichnet einen imaginären Kreis und lächelt in die Kamera, die immer näher auf sein Gesicht rückt, das zerfurcht ist, gegerbt und auch ein wenig müde. Heiner Müller hat ihn nach Berlin eingeladen, für die Ausstellung „Die Endlichkeit der Freiheit“, im Sommer 1990. Es ist die Zeit der Umbrüche, weltbewegende Dinge passieren seit dem Mauerfall, ostwärts hat das Leben ungeheuren Auftrieb.
Aber davon redet Merz nicht. Stattdessen sieht er die Probleme, die der zeitgenössische Künstler hat, wenn er die Veränderungen der Welt nicht begreifen, sondern selbst gestalten möchte. Merz mag sich nicht hinter der Politik in die zweite Reihe stellen, für ihn ist künstlerische Kreativität der Motor der Geschichte. Deshalb seine beschwörenden Gesten, der Kreis, der sich zwischen seinen Fingerspitzen schließt. Die gegenwärtigen Ereignisse, sagt Merz, sie lassen nur eine Frage zu: „Was machen?“ Diesen Satz spricht er wieder und wieder, die Kamera starrt gebannt auf sein Gesicht, noch ein Lächeln, dann hebt er das Glas, der Cognac wird geleert.
Die Rede von Merz in Heinz-Peter Schwerfels Dokumentarfilm zur Ausstellung mag fünf Minuten gedauert haben. Danach folgt ein Schnitt, auf die abgeschabten Kachelwände am Lehrter Bahnhof. Eine S-Bahn hält, fährt wieder ab, gibt den Blick auf eine blau leuchtende Neonschrift frei: „Was machen?“ steht an der Wand, das war die Arbeit von Mario Merz für „Die Endlichkeit der Freiheit“. Zierlich, fragil, kaum staatstragend. Kein Wunder, dass ihn Müller gemocht hat. Wesensverwandte Bohemiens waren beide, Ikonen des Kulturbetriebs auch. Müller starb Silvester 1995, seither ist die Stelle leer geblieben, an der er stand. Mario Merz ist am Sonntag gestorben, und man weiß zumindest, dass viele Werke von ihm bleiben werden: sein Iglu für den Hamburger Bahnhof in Berlin, seine groß angelegten Installationen im Kunstmuseum Wolfsburg, ganze Räume in Bremen, Duisburg und München.
Dabei wurde der 1925 in Mailand geborene Objektkünstler mit einer Kunst berühmt, die ewige Werte und museale Weihen ablehnte. Arte Povera der späten Sechzigerjahre war aus billigen Industriestoffen produziert, als Geflecht aus technisierter Umwelt und naturbelassenem Material. Die „arme Kunst“, der der Kunsttheoretiker Germano Celant den Namen gab, richtete sich nicht gegen den Fortschritt, dafür war sie viel zu sehr auf gesellschaftliche Utopien ausgerichtet. Wie soll man leben – öffentlich oder privat? In jedem Fall künstlerisch und nicht verwaltet. So stand Arte Povera im Widerspruch zum Positivismus, dem allzu ungebremsten Fließen der Kapitalströme.
Bei Merz ging die Ablehnung so weit, dass er sich mit Dingen seiner täglichen Umgebung fast archaische Behausungen baute. Seine Iglus waren für ihn „die ideale organische Form“, kaum mehr als eine wohnbar gewordene Idee: Reisigbündel, Lehm, Glasplatten, weiße Säcke gefüllt mit Sand. Dieser physisch vertrauten Wirklichkeit des Materials fügte er zu Wörtern gebogene Neonröhren bei, um mit der Schrift die poetische Textur der Objekte – in einem wörtlichen Sinn – zum Leuchten zu bringen. Wenn auf einem Iglu „Objet cache-toi“ steht, dann soll damit die konkrete Stofflichkeit nicht verschwinden, nur Platz machen für die Wirklichkeit dessen, was Bauen bedeutet: einen Raum zum Leben herstellen. Deshalb war der Iglu für Merz auch eine Art Urhaus, weil es „ein Haus ohne Kamine, ohne Dächer, weil es ganz Dach ist. Es ist ein Haus ohne Fundamente, ein Haus, das nicht die Struktur der Tradition hat. Aber es hat die Tradition in sich.“
Heute stehen die Iglus von Merz überall auf der Welt in Museen, sind wieder ganz zum Kunstgegenstand geworden. Auch darin liegt eine Ironie, die in der Merz’schen Röhre „Was machen?“ aufblitzt. Was immer der Künstler macht, ist Kunst. Zuletzt wurde Merz dafür im Juli mit dem japanischen Premium-Imperiale-Preis ausgezeichnet – immerhin 108.000 Euro. Er hat es hingenommen, auf seine elegante Art als linker italienischer Intellektueller, mit einem Handkuss für die japanische Kaiserin.