: Marke im Remix
In zehn Jahren hat sich „Spiegel Online“ zum erfolgreichsten deutschen Nachrichtenportal entwickelt – durch harte Arbeit am eigenen Mythos
VON MICHAEL LÜNSTROTH
Junge, Junge: Ist das wirklich schon zehn Jahre her? Aber ja, souffliert uns die Pressemitteilung des Spiegel-Verlags: Die elektronische Ausgabe des Nachrichtenmagazins wird tatsächlich zehn heute. Eigentlich sind zehn Jahre nicht so viel, aber 1994 kommt einem heute so weit weg vor: Kohl war noch Kanzler, eine Band namens Ace Of Base belegte wochenlang Platz 1 der Musikcharts – und schon verschwimmt die Erinnerung. Die gefühlte Distanz zu 1994 ist mindestens doppelt so groß wie die tatsächliche. Gab es damals schon das Internet?
Jedenfalls nicht so wie heute. Wie das damals aussah, lässt sich jetzt nochmal nachklicken: in einem Dossier auf Spiegel Online. Quasi als Geburtstagsgeschenk hat der Online-Redakteur Frank Patalong ein hübsches Päckchen selbstreferenzieller Informationen geschnürt. Von den Anfängen bei dem Internet-Ableger, über lustige Anekdoten aus der Spiegel-Welt bis hin zu einer Demo-Version der alten Spiegel.de-Seiten. Heute vor zehn Jahren wurde die erste Version der Seite online gestellt – mit dem Anspruch mindestens wöchentlicher Updates. Bereits zwei Jahre später gab es den ersten Relaunch.
In seinem pfiffigerweise „e-ditorial“ genannten Grußwort schrieb Uly Foerster, damals zuständiger Ressortleiter, dass es „ohne grafische Exzesse“ auf Spiegel Online viel zu entdecken gebe. „Wo jetzt vielleicht eine interaktive Funktion nur in gewissen Zeitabständen greift, gibt es morgen schon schnellere Antworten. Wo heute noch Ton in einer Qualität von Radio Eriwan aus den Boxen tönt, ist morgen schon der Spiegel-Audio-Service wie aus dem Autoradio zu hören“, in diesem fast biblischen Ton präsentierte Foerster damals die Seiten des neuen Spiegel Online. Formulierung und Gestaltung der Seite bestätigen den Eindruck, dass 1994 lang her ist. General Alexander Lebed griff damals nach der Macht im Kreml. Lebed? Der ist inzwischen auch tot. Das Einzige, was Spiegel.de von 1994 mit dem von 2004 verbindet, ist das Rot der Seite, die schon immer eine Spur greller war als das klassische Spiegel-Orange. Die Seite ist gewachsen, hat sich emanzipiert von dem Printprodukt – und ist besser geworden. Das legen nicht zuletzt die zahlreichen Auszeichnungen nahe, die die Redaktion bekommen hat. Es ist inzwischen das erfolgreichste deutsche Online-Nachrichtenmagazin: 1,6 Millionen Leser nutzen Spiegel Online in der Woche, über 200 Millionen Besuche verzeichnet die Seite im Monat. Der Hauptkonkurrenten im Netz, die Netzzeitung und Focus.de, liegen beide mit einer knappen Million Leser dahinter.
Woher kommt es, dass das Spiegel-Portal erfolgreicher ist? Hat er mit der Erotik der Aktualität zu tun? Mit dem zarten roten Band in der Übersichtsleiste? Der Reiz der Website liegt auch darin, dass man die Entstehung von Nachrichten beobachten kann. Das Online-Dossier über den elektronischen Spross der Spiegel-Familie offenbart allerdings auch: Kaum ein anderer deutscher Verlag versteht es so sehr wie die Hamburger, sich selbst zur Nachricht zu machen und somit zum Element des Zeitgeschehens zu werden.
Der Spiegel hat schon immer aktiv am Mythos der eigenen Marke mitgearbeitet. Insofern ist das Dossier nur eine weitere Episode der beispiellosen Selbst-Historisierung, die seit jeher zum Erfolg der Marke und des Internetauftritts beiträgt. Der Philosoph Roland Barthes hat mal gesagt, dass ein Mythos in dem Moment entsteht, wenn er nicht mehr hinterfragt wird. Das ist für den Spiegel schön, für den Journalismus eher nicht. Denn nicht zu hinterfragen bedeutet: zu glauben. Und das hat im Journalismus nichts zu suchen. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, Spiegel Online.