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: Ansteckungsgefahr in Berlin

Um das Berlin der Zwanzigerjahre hat sich längst ein Mythos gesponnen. Die „Goldenen Zwanziger“, das sei ein ekstatischer Tanz am Rande des Abgrunds gewesen: Revuetheater und Varietes, kurzberockte Ladenmädel, bekokste Tänzerinnen und die ins Weekend strömenden Scharen der Neuen Angestellten. In der Erinnerung schillert die Metropole trotz des Lumpenproletariats. Auf dieses Berlin nimmt Thomas Urbans „Russische Schriftsteller im Berlin der Zwanziger Jahre“ lediglich mit dem Titel Bezug. Nicht nur, dass Berlin hier nicht glänzt. Vielmehr kommt es fast gar nicht vor. Das hat einen einfachen Grund. Zwar kamen mit Maxim Gorki und Ilja Ehrenburg, Marina Zwetajewa, Boris Pasternak und Vladimir Nabokov einige der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands nach Berlin. Sie lebten jedoch in einem geschlossenen Zirkel, wie in einer russischen Emigrantenkolonie. Berlin, so scheint es, war nur Kulisse des russischen Kultur- und Geisteslebens.

Die „zweite Hauptstadt Russlands“, so sagten die Deutschen. Im Jahr 1923 gab es in Berlin 39 russische Zeitungen, und 360.000 russische Emigranten suchten Asyl. Sie prägten das Straßenbild in Wilmersdorf und Charlottenburg ebenso wie das Kulturleben. Die Berliner nahmen das zur Kenntnis: „Das neue deutsche Bürgertum entdeckt die russische Seele“, heißt es spöttisch in einem zeitgenössischen Feuilleton. Und doch lebten Russen und Deutsche in zwei Welten. Für die Emigranten war Berlin eine Zwischenstation, keine zweite Heimat. Vladimir Nabokov etwa sprach von seiner Zeit in Berlin als seinen „russischen Jahren“. Die meisten Emigranten zogen bereits 1923 nach Paris weiter – oder kehrten in das sowjetisch gewordene Russland zurück.

Thomas Urban erzählt diese Zwischenstation im Leben der Literaten nach, das Leben in der Enklave der russischen Intelligenzija. Lesen, rezitieren und Streiten über Literatur in den Cafés rund um den Nollendorfplatz. Die Spione im Dienst der Tscheka, des russischen Geheimdienstes, gesandt, um die Exilorganisationen auszuspähen. Da sind Kurzbesuche von mythenumwehten Gestalten: Der Revolutionsdichter Wladimir Majakowski reist aus Moskau als „Kulturbeauftragter der Revolution“ an. Sergei Jessenin nimmt während einer Weltreise mit seiner mondänen Gattin, der Ausdruckstänzerin Isadora Duncan, Aufenthalt in Berlin.

Vor allem aber, scheint es, ist die russische Emigrantenkolonie ein Ort, an dem jeder jeden kennt – und jeder über jeden spricht. Man erzählt sich so einiges; da sind Skandale und Intrigen, Romanzen und Liebesnöte. Diese Atmosphäre lässt Urban wieder entstehen. Es gelingt ihm, weil er ihr Kommunikationsmuster wiederholt: indem er die einen über die anderen sprechen lässt. Da beschreibt etwa Ilja Ehrenburg den großen, kantigen Majakowski als besorgten Hypochonder, der den Kaffee mit einem Strohhalm schlürft, um das Glas nicht mit den Lippen berühren zu müssen. Der Schriftsteller Iwan Bunin nennt seinen Kollegen Alexej Tolstoi einen „begabten Schwindler und großzügigen Prasser“, während Tolstoi seinerseits über Wladislaw Chodassewitsch schreibt: „Ein merkwürdiger Mensch. Klug, aber er legt stets eine bedauernswerte Eilfertigkeit an den Tag, allen lebenden Geschöpfen, sogar den Fliegen, von seiner Klugheit kundzutun.“

Aber was bedeutete die Anwesenheit der russischen Literaten für die deutschen Autoren? Urban erwähnt zwar einige Begegnungen mit deutschen Künstlern, die Ehrenburgs etwa mit George Grosz. Öfter auch wird Thomas Mann genannt. Aber es ist nicht mehr als ein Name, der fällt. Bleibt dem Leser also nur, „das Berlin der Zwanzigerjahre“ eine Weile mit dem Blick der russischen Schriftsteller zu sehen.

Mit dem Blick Ehrenburgs etwa: „Die Stadt der abscheulichen Denkmäler und der ruhelosen Augen“. In Nabokovs Stadtführer durch Berlin hingegen zerfällt die Metropole in ihre unglamourösen Fragmente: Straßenbahn, Zoo, Arbeiter und Handwerker. Schillern hingegen tut sie nicht.

KATRIN KRUSE

Thomas Urban: „Russische Schriftsteller im Berlin der Zwanziger Jahre“. Nicolai Verlag, 19,90 Euro