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Archiv-Artikel

Maßvoller Lohnabschluss gesucht

Die IG Metall fordert bis zu vier Prozent mehr Lohn. „Untragbar“, sagen die Arbeitgeber. Und Kanzler Schröder mahnt „wirtschaftliche Vernunft“ an. Einen Inflationsausgleich soll es nicht mehr geben, finden auch einige Wirtschaftsforscher

aus Berlin THILO KNOTT

Gerhard Schröder gab ganz den überparteilichen Kanzler. Zu „wirtschaftlicher Vernunft“ rief er gestern die Tarifparteien vor den Mitte Dezember beginnenden Verhandlungen in der Metall- und Elektrobranche auf. Wie das noch jeder Kanzler getan hat. Die Lohnpolitik könne einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Aufschwungtendenzen leisten, sagte er bei einem Kongress der Deutschen Bank in Berlin. Schröders Eindruck sei, beide Tarifparteien hätten verstanden, dass sie „auch eine volkswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Verantwortung tragen“.

Doch was konkret heißt „wirtschaftliche Vernunft“? Diese Frage wollte Schröder nicht beantworten. Dafür liegen die Antworten der Tarifparteien seit Montagabend vor: Die IG Metall will „bis zu vier Prozent“ und hält das für eine „Forderung mit Augenmaß“. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall nennt die Marge „untragbar“ – und bietet 1,4 Prozent. Die einen gehen von einer Produktivitätsentwicklung von circa zwei Prozent und einer Inflationsrate von 1,3 Prozent aus: Das macht 3,3 Prozent gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum. Die anderen sehen diesen nur in Höhe der Produktivitätsentwicklung von circa 1,4 Prozent.

Auch führende deutsche Wirtschaftsinstitute kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen. Die Lohnempfehlung sei „ein Fortschritt zu früheren Forderungen“, sagte Hagen Lesch vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) der taz, „aber immer noch zu viel“. Spielraum sei maximal in Höhe der Produktivitätsentwicklung von erwarteten 1,4 Prozent gegeben. „Jeder Prozentpunkt darüber kostet Arbeitsplätze“, sagte der IW-Tarifexperte Lesch. Er verweist auf eine IW-Studie, in der die Lohn- und Beschäftigungsentwicklung im Zeitraum 1970 bis 2000 untersucht wurde. Das Ergebnis: „Eine Lohnzurückhaltung um ein Prozent unter der Produktivität schafft über drei Jahre 120.000 Arbeitsplätze“, erklärte Lesch. Anders schätzt das Thomas Straubhaar ein. Der Chef des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) bezeichnete gegenüber der taz eine tatsächliche Lohnsteigerung von 2 bis 3 Prozent als „neutral für die Konjunktur und die Beschäftigung“. Allerdings werde dadurch „Beschäftigung eben auch nicht unbedingt gefördert“, sagte Straubhaar in Bezug auf die momentan 4,4 Millionen Arbeitslosen.

Die Frage, was vertretbar ist, stelle die IG Metall auch vor ein innergewerkschaftliches Problem, sagte der Gewerkschaftsexperte Jürgen Hoffmann der taz. „Die Wünsche der Metaller gehen je nach Branche und der unterschiedlichen Produktionsstärke weit auseinander.“ Die Begehrlichkeiten seien in der starken Automobilbranche, etwa bei Porsche oder DaimlerChrysler, weit größer als beispielsweise in der Textilindustrie, sagte der Soziologieprofessor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Ein zu niedriger Abschluss könne dazu führen, so Hoffmann, dass die starken Branchen „aus der Solidargemeinschaft aussteigen“. Die Frage nach differenzierten Lohnabschlüssen schwele auch zwischen dem Vorsitzenden Jürgen Peters und seinem Stellvertreter Berthold Huber. „Ich bin gespannt“, sagte Hoffmann, „ob sie ihre derzeitige Eintracht durchhalten.“

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