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Archiv-Artikel

Die Königin der Nacht

Vom Abendglühn zum Morgenrot, ein schneller Surf durch die Wellen der Stadt, die niemals schläft. Ob das denn noch stimmt, New York, New York? Ein Selbstversuch

AUS NEW YORK CITYHENNING KOBER

Die Dämmerung frisst langsam den Tag. Kurz vor sieben auf der Grand Army Plaza, Südostecke Central Park: Mütter in der Gruppe schieben Kinder im Wagen. Zwei Bambinis in Himmelblau umklammern ihre Minibaseballschläger. Ein alter Mann joggt seinem Personal Trainer hinterher. Pferdehufe klackern auf dem Asphalt. Das asiatische Paar dehnt den Moment in einer Kutsche. Tanz der Menschen vor großer Kulisse. In der ersten Reihe stehen die Hotels, Helmsley Park Lane, Ritz Carlton, das Interconti und natürlich der Plaza-Palast. Nach dem strecken sich gerade aus einem Taxi zwei hübsche Mädchenaugen unter einem roten Lockenkopf. Ihr Gesicht strahlt Glückstaler, die noch kurz geliftet werden, als sich unsere Augen kreuzen.

So einfach funktioniert gute Laune in dieser Stadt. Hübsch, leicht und vorbei. Geht es so weiter, wird das eine amüsante, verschwenderische Nacht. Der Plan: aufbleiben, wachbleiben bis zum nächsten Morgen. Keine Verabredungen, kein Kino, kein gekauftes Entertainment. Die Frage: Ist New York noch die Königin der schlaflosen Städte? 1,5 Millionen Menschen leben auf Manhattan, tagsüber sind es gewaltig mehr. Wer nie hier war, stellt sich Berlin zwischen Ku’damm und Bahnhof Zoo vor oder London Oxford Circus. Das einige hundert Mal nebeneinander gewürfelt. Dann fehlen immer noch die Hochhäuser, aber die Übervölkerung der Straße ist vergleichbar.

Mein Telefon singt Sinatras Töne: New York, New York. „Hello“. „Good evening, Mr. Anderson“, den möchte eine Charlie sprechen. Verwählt. Ich kaufe Kaffee an einem Wagen, und etwas knallt von hinten an meine Ferse. „Sorry“, ein Ruf. Zwei Mädchen, Tüten von Victoria’s Secret und Urban Outfitters am Handgelenk und eine Fernsteuerung vor dem Bauchnabel. Die eine kommt rüber, tut ihr ja sehr Leid, ihre Freundin noch ungeübt mit dem Minijeep … übrigens, die Haare: „terrific“. Gina und Sharon auf dem Weg nach Hause, Upper West Side. Ah, aus Berlin, „awesome“, erst seit drei Wochen hier? Fest steht: „Sharon, er braucht Freunde.“ Einladung, gleich mitkommen, Essen machen, einen Film schauen. Vanilla Sky, Tom Cruise, der darin: „Dynamite“. Was man meint? Die Spirit geht aus, was öfter mit amerikanischen Zigaretten passiert. Doch lieber Abschied. Zu viel, zu schnell, Respekt vor diesem Gina-Sharon-Abenteuer. Ich laufe die Fünfte Avenue runter. Lichterrasen auf der Straße. Im Tiefflug: Gelbe Taxis, Stretchlimousinen. Höher gelegt der private Spaß: Mercedes M-Klasse, Landrover, ein verchromter Hummer. Auf dem Gehsteig Wünscherasen: „Warum hast du kein Taxi vor dem Hotel genommen“, schreit ein Dicker seinen dicken Freund an. Vor dem Trump-Tower Frauenraffgier an einem Stand mit falschen Louis Vuitton-Taschen. Müde Arbeiter auf der Treppe zur St.-Thomas-Kirche. Überlast für die Sinne.

Es ist wenig nach acht, Halle Grand Central Station. Gedränge um einen ausgestellten gelben Lamborghini. Aus meiner Tasche New York, New York. Dran ist eine trotzige Miss: „Peter, Where are you? I’m waiting“. Meine Füße nehmen die Treppen zur Subway, Downtown. Großes Gedränge. Fremder Atem, Körperkontakt. Schwarze Jungen, die ihre T-Shirts wie Kleider tragen. Totaler Clash der Arten. Endlich im Zug. Der Wagen ist voll, Männer schlafen im Stehen. Gut die Hälfte hat weiße Stecker im Ohr. Der iPod ist mit weitem Abstand vor der Calvin-Klein-Shorts das am häufigsten körpernah getragene Industrieprodukt. Müde Augen, schwitzige Gesichter. Laut kreischende Mädchen aus dem Rheinland. „This train is out of service“, knackt es durch den Lautsprecher. Große Ratlosigkeit. Uniformierte fangen an zu schreien. Schwarz-gelbes Plastikband wird gespannt. Kein Zug fährt mehr. Wütender Protest. Rette meine Ohren mit dem Discman. Velvet Underground spielen „Candy Says“. Sofort fängt an: Das große Gleiten. Nach oben. Dann die Park Avenue runter in weichem Taxileder. Totale Eigenverantwortung hier, besonders für die Stimmung. Raus an der 33sten Straße. Rein ins Empire State Building, das an diesem Tag bläulich leuchtet. Im leeren Lift Ruhe aus Marmor. Lou Reed singt „Pale Blue Eyes“. Oben, möglichst blind durch den „Gift Shop“ dribbeln, raus auf die angenehm freie Plattform. Distanz von oben. Überblick. Die Lichter sind ein gewaltiges Meer, ohne Ende. In Brooklyn noch mehr, dichter beieinander, orange, keine Hochhäuser verstellen den Blick. Bildanweisungen in allen Sprachen. Dieser Stelle ist ein Platz in den Top Ten der meist fotografierten Orte sicher. Nicht dabei sind zwei Jungen mit über den Kopf gezogenen Kapuzen. Die haben grelle Laune und starten aus Ein-Dollar-Scheinen gefaltete Flieger in den Süden. Nach einer Weile im Wind merkt das Gehirn, was die Augen die ganze Zeit sehen und wunderbar ist: Das Menschenlicht nimmt gar nicht den größten Raum, der gehört dem Horizont, einem blass-blau-schwarzen Riesen, in dem die Sterne wohnen. Die in alle Richtungen kreuzenden Flugzeug-Positionslichter hinterlassen die schöne Ahnung eines Ziels.

Halb vor Mitternacht, Union Square, Grenze zwischen Uptown und Downtown. Am Subway-Ausgang fordert ein fülliges Mädchen: „Register for vote!“ Wer nicht hören will, dem zeigt ein Plakat: „Vote or die“. Und wer es nur so versteht, dem springt ein hüpfendes Mädchen mit Rastazöpfen in den Weg, auf ihre Brust geklebt ein Schild: „Lick Bush“. Suggestion auf allen Kanälen. Es geht um was, demokratische Hoffnung auf den Jungwähler. Der Square eine hübsche Seltenheit in dieser ansonsten konsequent auf Bewegung ausgerichteten Stadt. Ein grünes Quadrat vollgepflastert mit Bänken. Darauf Menschen, die nicht nach Hause können oder wollen. Guter Platz, um zu sitzen und einfach zu warten, wer vorbeikommt. Zwei Polizisten in einem Dreirad bewachen Bagels essend das Körpertheater der Skateboard-Jungen. Ein Mann mit Bart und Lautsprecher erzählt dem Publikum von den seiner Meinung nach kriminellen Machenschaften des World-Trade-Center-Mieters Larry Silverstein.

„Wollen wir tauschen?“, eine Zigarette gegen Gummibärchen, bietet Jacob, einen gelben Bleistift zwischen Ohr und blond gelocktes Haar gesteckt. Das geht klar, Haribo in den USA ist übrigens farbiger. Jacob bleibt neben mir sitzen und malt auf einen Block Menschen, die halb wie Tiere aussehen. „Wenn ich die anderen erkenne, weiß ich wenigstens, wer ich nicht bin“. Seine bernsteinfarbenen Augen sehen nach komplizierten Gedanken aus. Er stellt mir seinen Freund Serge vor, einen flattrigen 19-Jährigen in zerrissenen Blue Jeans und mehreren übereinander getragenen Shirts, auf dem obersten ein YMCA-Print. „Der Mann verkauft den chemischen Frieden“, sagt Jacob, und dann ist klar, warum der ständig in Bewegung von einer Ecke zur anderen tänzelt. Seine Handelsware sind „Prescription Drugs“. Ein schwarzer Schmetterling, an dem das Leben selbst heftig rüttelt. Sein Bett steht in einem Heim, die Mutter ist in Moskau geblieben, der Vater ein gemeiner Hund. New York ist ihm vor allem die große Freiheit. „Pill the Kid“, wird er von Jacob scherzend genannt. Im Angebot: Xanax (gegen Angst), Prozac (gegen Depressionen), Ambien (für den Schlaf), Viagra (für die Härte) und aktuell der beliebteste Hammer: Adderall, vier Amphetaminsalze, abgemischt zum perfekten Euphorie-Blockbuster. Alles aus der kontrollierten Produktion der amerikanischen Gesundheitsindustrie. Die Kunden tragen Prada-Sport und Salvation-Army-Chic. Kommen also aus allen Klassen. Ein Wort, das in New York nach wie vor, große Bedeutung trägt.

„Reden ist nur die Landkarte“, meint Jacob, mit dem ich im Starlight Dinner sitze. Der Uhrzeiger an der Wand umspielt die Zwei. Serge ist schnell mal durch die Tür, irgendeiner Fee hinterher. Wir essen Pancakes mit Blaubeeren. Trinken dazu Rheingold-Bier, das ein New-York-Original ist, seit 1883. Auf den kleinen Butter-Plastikpackungen steht: „Summer Maid“. Channel Thirteen zeigt ein Interview mit Richard Avedon. Aus den Boxen tanzt Brian Wilsons Lächeln. War die Zeit bis Mitternacht ein kecker Sprinter, lahmt sie jetzt. Dass mir Jacob erklärt, eine Dienstagnacht sei besonders schwer, entschuldigt nicht. Die Königinnenposition verteidigt man nicht mit Vorsprung. Später: Mädchen rauchen dicke Zigarren vor dem Chelsea Hotel. Im Deli Grocery arbeiten Kinder. Im Schaufenster blinkt ein Jesusbild. Auf der Großbildleinwand des Virgin Megastores frühstückt eine amerikanische Familie. Der Wind treibt schnell, erinnert an den Atlantik. Die Subway duftet aus dem Untergrund. Drei Quarters kaufen etwas Sonne im Solarium. Am Straßenrand riesige Müllgebirge. Obdachlose bitten um „Change“.

Es ist bald sechs. Oben lauert ein neuer Tag. Ich sitze in der A-Subway, Endstation World Trade Center. Der Zug ist unheimlich leer bis auf zwei Schlafende im Anzug. Langsam quietschendes Bremsen in der Station Chamber Street. Vor der St.-Pauls-Kirche stehen „Mütter und Väter gegen den Krieg“. Im Millennium Hilton brennen die ersten Lichter. Immer noch verletzt steht das Gebäude der Deutschen Bank ganz in Schwarz gehüllt neben der Leere, die die Katastrophe vor drei Jahren riss. Am neuen Eisenzaun steht ein weinender Mann. Mein Telefon klingelt. „Good morning, darling“, haucht ein unbekannter Junge fröhlich, und da muss ich aufpassen, nicht selbst zu weinen. Nur wer hier war, begreift, dieser Fleck ist auf ewig verseucht mit Traurigkeit. Ich fahre die Rolltreppen hinunter in die neue provisorische Station für den Regionalverkehr nach New Jersey. Viel frischer heller Beton, Stahl. Wie ein Lagerregal gebaut, zur Seite hin offen, steht da zum ersten Mal etwas Neues in der tiefen Grube, wo früher die Fundamente für die schwarzen Türme waren. Surreal, dort herumzulaufen, wo so viele Menschen starben, und, vielleicht noch schlimmer, weit mehr Seelen eine fortschreitende Vergiftung erlitten haben. Kälte klammert jetzt fest. Ich will schnell in mein Bett, bevor die Morgenmenschen kommen. Der letzte Blick fällt auf etwas vom großen Truman Capote. In brüchig-schwarzer Farbe über ein Schutznetz gedruckt, steht da: „New York is a diamond iceberg floating in river water“.