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Archiv-Artikel

Mein Meinungskater

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Am schönsten wäre der radikale Verzicht aufs Meinen. Aber dann ginge einem viel Vergnügen verloren

Die derzeitige Diskussion über den Beitritt der Türkei in die Europäische Union ist zweifelsohne eine Diskussion mit weitreichenden Folgen für die Zukunft. Ich halte es daher für unausweichlich, diese Frage mittels eines direkten Volksentscheids zu klären, damit Politik und Wirtschaft diesmal nicht die Möglichkeit haben, über die Köpfe der Bürger hinweg zu entscheiden.

„Frankfurter Rundschau“

vom 24. 10. 04, Leserbrief von

Peter Theissen aus Darmstadt

Ja, so verhält es sich mit der Meinung. Sie steht einem, unabhängig vom Gegenstand, glasklar, mit halluzinatorischer Deutlichkeit vor Augen. Ob die EU die Türkei als Mitglied aufnehmen soll, darüber entscheidet eine Volksabstimmung. Und das möglichst rasch; denn im Augenblick kann Herr Theissen darauf hoffen, dass die Mehrheit derselben Meinung ist wie er: kein Beitritt. Der Lauf der Zeit wird diese halluzinatorische Klarheit eintrüben; da werden unsere Meinungen wacklig: Womöglich spricht in fünf Jahren doch nicht alles gegen den Beitritt der Türkei?

Meinungen sind unabhängig vom Gegenstand, ebenso von Kenntnissen. Die Überzeugtheit von Herrn Theissen (oder mir, oder wer es gerade ist) nimmt keinerlei Rücksicht, nicht einmal Bezug darauf, dass in der Bundesrepublik Volksentscheide kein reguläres politisches Instrument sind. „Dann muss der Bundestag eben beschließen, dass regelmäßig Volksentscheide stattfinden.“ Basta. Dass der Bundestag das bleiben lässt, ist für die halluzinatorische Klarheit der Meinung ohne Folgen – allenfalls kann man noch paranoid eins draufsetzen: Der Bundestag unterlässt es, Volksentscheide als regelmäßiges politisches Instrument einzuführen, weil er ganz genau weiß, dass das Volk stets anders entscheiden würde als der Bundestag (stets will das Volk dasselbe wie Herr Theissen oder ich, oder wer es gerade ist).

Es geht hier nicht darum, die Leserbriefschreiber zu diskriminieren (oder nur ein bisschen). Sie machen als Autorenproletariat in ihrem Ungeschick doch nur deutlicher, was die Leitartikler ebenso antreibt (jeder Leserbrief möchte ein Leitartikel sein). Was uns alle bewegt, wenn wir unseren Meinungen nachgeben, wohin auch immer sie uns führen.

Sie haben Recht, wenn Sie aus diesen ersten Abschnitten so etwas wie Reue, Zerknirschung heraushören. Ich habe einen Meinungskater – zu viel Meinung geäußert wie angehört, und das hat ähnliche Folgen wie zu viel Alkohol und Zigaretten. Das Führerhauptquartier, pflegt mein alter Freund Theckel zu behaupten, ist die Mutter aller Talkshows, der Führer hatte auch zu allem eine Meinung und hielt damit nur ungern hinterm Berg.

Apropos: Neulich rief das ZDF an und fragte, ob ich Lust hätte, Maybrit Illner live zuzuschauen, wie sie mit Marcel Reich-Ranicki, Bernd Eichinger, Guido Knopp und noch jemandem diskutiere über … na, Sie wissen schon. Meinen Sie nicht, dass Adolf Hitler den Bruno Ganz (nein, umgekehrt) allzu menschlich darstellt? Was sagt diese allzu menschliche Darstellung über Deutschland heute? Hinterher hätte für mich die Möglichkeit bestanden, Reich-Ranicki oder Bernd Eichinger oder Guido Knopp oder noch jemandem brennende Fragen zu stellen … Dabei hatte ich – was das ZDF nicht wissen konnte – gerade eine wilde Diskussion hinter mich gebracht, warum ich auf gar keinen Fall den Ganz-Film mit Hitler anschauen werde.

Aber diese Diskussion war es nicht, die mir den jüngsten Kater verschaffte, sondern wieder mal eine darüber, ob die Bundesrepublik verelende dank Hartz IV und so weiter, jedenfalls in ihren unteren Schichten. Bochum! Karstadt! Eine Kollegin aus der Schwermeinungsindustrie – sie moderierte mal eine erfolgreiche Talkshow – führte einen unwiderleglichen Beweis für die Verelendung an: In der Berliner Fasanenstraße schließt ein Geschäft nach dem anderen! (In der Fasanenstraße, müssen Sie wissen, residieren ausschließlich Luxusgeschäfte.) Ich meinte mal wieder das Gegenteil, im Übrigen sei die Gegenwart immer voller Krise, erst die Vergangenheit vergolde sich wie von selbst (neulich wurde bei einer marxistischen Andachtsfeier, der ich beizuwohnen hatte, der Nachkriegsära als Goldenen Zeitalters gedacht – also, wer dabei war, hat das allerdings so nicht in Erinnerung).

Das Problem ist, dass weder die Kollegin noch ich wirklich was Genaues über den Zustand des Kapitalismus wissen. Der Untergang von drei Luxusboutiquen in der Fasanenstraße beweist ebenso wenig (oder viel) wie die Arbeitslosen in meiner Straße, die alle fleißig an der Schwarzarbeit sind (ein Standardbeispiel, das ich immer wieder gern ins Spiel bringe, um auf Lord Dahrendorf zu verweisen, der schon lange die Schwarzarbeit zu legalisieren fordert). Insgesamt weiß der Kapitalismus, die Gesellschaft vermutlich recht wenig über den Kapitalismus, die Gesellschaft; und wir als die Insassen haben eine noch schlechtere Sicht. Aber das hindert uns ganz und gar nicht daran, unserer Meinungsfreude nachzugeben und von der Rechtschreibreform bis zum Türkeibeitritt all die Stoffe durchzuräsonnieren bis zur Bewusstlosigkeit, und am anderen Morgen dann der schwere Meinungskater wie nach einer Nacht im Führerhauptquartier. Was tun?

Am schönsten wäre natürlich der radikale Verzicht aufs Meinen, fein schweigen wie ein Zen-Meister. Bloß geht einem dabei gleichzeitig eine Menge Vergnügen verloren; und: Auch der trockene Alkoholiker bleibt bekanntlich Alkoholiker – im Innern des Meinungsabstinenten dröhnen die Leserbriefschreiber und Leitartikler doppelt so laut.

Zu viel Meinung, geäußert oder angehört, führt zu ähnlichen Folgen wie zu viel Alkohol oder Zigaretten

Früher dachte ich, die Lösung sei beim Wissen, bei den Kenntnissen zu suchen. Daraus müsse jede Meinung, die ernstliche Erwägung verdient, zu vielleicht nicht hundert, aber, sagen wir: sechzig Prozent bestehen. Bloß kann man sich dann nur noch an sehr wenigen Diskussionen beteiligen, denn Kenntnisse besitzt man nur in einem eng begrenzten Umfeld. Oft genug handelt es sich um Zukunftsdinge, die man unmöglich wissen kann; deshalb möchte Herr Theissen sofort über den Türkei-Beitritt abstimmen: weil die Türkei, die einst beitreten wird, eine andere ist als die jetzige. Dasselbe gilt für die Wirkungen der Gentechnologie.

Außerdem macht es gar keinen Spaß, auf Kenntnisse zu setzen. Jeder weiß, dass bei lebhaften Diskussionen das Wissen nur lähmt; wer wirklich was zur Sache zu sagen hat, wird gern übergangen. Man greift auf Lesefrüchte, Zeitungs- und TV-Informationen zurück, wie sie einem gerade in die Meinung passen. Ich habe seit Jahren kein Buch von Elfriede Jelinek gelesen, aber ich weiß genau, was ich von ihr halte, und das führe ich so hartnäckig und scharfsinnig aus, bis mir wieder ganz elend ist.

Erleichterung ebenso wie Vergnügen verspricht eine dritte Verfahrensweise, die ich das Meinen zweiter Ordnung nennen will. Wenn Sie sich das nächste Mal anhören müssen, dies sei die schwerste Krise, die die Bundesrepublik seit ihrer Gründung durchlebt, dann sagen Sie (oder denken daran), dass das im Grunde in jeder Saison der Fall ist. In der letzten ging es um den Untergang der SPD; davor war es George W. oder die Rechtschreibreform. Jetzt wird es interessant, Zyklen zu beobachten. Wann ist mal wieder die sittliche Verrohung der Jugend dran (über die man sich in der meinen große Sorgen machte)?

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.