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Archiv-Artikel

in fußballland Oh Leberweiß, olé!

CHRISTOPH BIERMANN über durchaus schwierige Fangesänge in der Fankurve des VfL Bochum

CHRISTOPH BIERMANN, 43, liebt Fußball und schreibt darüber

Endlich wollte ich auch mitmachen, hob die Hände, begann zu klatschen und stimmte mit in den Sprechchor ein. Zuvor hatte ich mich dem Fanblock auf der Osttribüne eher vorsichtig genähert. In meinen ersten Jahren im Ruhrstadion, als es noch Stadion an der Castroper Straße hieß, hatte ich zunächst bei den Rentnern gestanden, die halblaut unter ihren Schiebermützen hervor maulten oder war an einzelgängerischen Tagen in die Ecke gegangen, wo die wenigsten Besucher standen. Inzwischen aber war die neue Stehtribüne fertig, unter dem Dach verstärkten sich die Rufe für den VfL Bochum zu einem – wie ich fand – Orkan. Und da musste ich hin.

„Oh Leberweiß, oh Leberweiß, olé“, riefen hunderte hinterm Tor des Gegners. Ich weiß nicht mehr, gegen wen es ging und wie das Spiel stand, aber das war in diesem Moment auch nicht wichtig. Den viele Meter langen Schal in den blau-weißen Farben mehrfach um den Hals geschlungen, war ich zu einem Teil des Fan-Blocks geworden. Wir alle zusammen würden den Gegner aus dem Stadion singen. Die Fransen des Schals wischten über meinen Schuhen hin und her, denn ich wippte hin und her, klatschte in die Hände und sang: „Oh Leberweiß, oh Leberweiß, olé!“

Mein Bruder stellte später auf dem Weg ins Stadion immer die Frage, ob wir „inne Fans“ gehen würden. Er sagte das überbetont und lustvoll, denn „inne Fans“` war eine Entscheidung fürs Rumschreien, Mitsingen, aber auch, sich beim Tor etliche Treppenstufen nach unten schubsen oder mit Bier überkippen zu lassen. Eigentlich entschieden wir uns fast immer dafür, „inne Fans“ zu gehen, außer bei Auswärtsspielen, wo es gefährlich werden konnte.

Man ging aber nicht einfach so „inne Fans“. Auch wenn die Soziologie eines Fanblocks nicht so kompliziert war, wie manche Forscher damals erklären wollten (angesichts ihrer Beschreibungen schienen Mafiafamilien oder Ameisenhaufen vergleichsweise simpel strukturiert), konnte man sich da nicht einfach so hinstellen. Es kam mir jedenfalls so vor, als würde es dauern, bis man da wirklich hingehörte.

„Oh Leberweiß“ sang ich jetzt aber mit, obwohl der Etablierungsprozess noch nicht abgeschlossen war. Ich tat das fraglos, aber die Frage stellte ich mir schon: Was sollte das bedeuten? Schließlich war da kein Leberweiß, der für den VfL Bochum spielte. In den Vereinsfarben gab es so wenig Leberweiß wie ein Maskottchen, das so hieß. Die anderen Sprechchöre leuchteten mir ein, auch wenn Originalität Ende der Siebzigerjahre noch nicht angesagt war. „Musst du mal scheißen und hast kein Papier, dann nimmst du den Wimpel von Schalke 04“, wurde für lustig gehalten. Wirklichen Witz hatte die Adaption des Liedes vom Bruder Jakob, die ich nur im Ruhrstadion hörte: „VfL Bochum, VfL Bochum, schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken? Bim Bam Bum!“ Das würde noch heute gut passen.

Ich sang „Oh Leberweiß“ auch in den folgenden Wochen, aber langsam wurde mir das Rätsel unheimlich. Verdammtes Leberweiß, was hatte es damit auf sich? Wen konnte ich fragen? Mein Bruder kam damals noch nicht mit, sollte ich also irgendwen anquatschen: „Hömma, wer is eigentlich Leberweiß?“ Wo ich vielleicht besser „Wat is Leberweiß?“ hätte fragen müssen. 16-Jährige mögen heutzutage cooler sein, aber für mich war das damals ein echtes Problem.

Irgendwann aber hielt ich es nicht mehr aus und fragte mit äußerster Beiläufigkeit einen mir unbekannten Nebenmann, der nicht so wirkte, als würde er mich hinterher öffentlich verspotten: „Hömma, was singst du da?“ Er schaute mich freundlich an und sagte: „Olé, Blauweiß, olé Blauweiß!“ Ich nickte ihm ein Na-klar-Nicken zu, wäre am liebsten aber sofort durch einen Erdspalt für immer unter Tage verschwunden. Gut nur, dass niemand je von meiner Version erfahren hat.

PS: Das späte Bekenntnis ermöglicht hat erst Axel Hacke, der als bekennender Verhörer in einem Handbuch geschrieben hat, dass Adornos Rede „vom wahren Leben im Falschen“ bei ihm zu einem „raren Beben in Flaschen“ wird. In leberweißen wahrscheinlich.