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Archiv-Artikel

Weiterhin existierende Probleme

betr.: „Das Wunder am Bosporus rückt näher“, taz vom 22. 10. 04

Wenn mensch auch nicht die Augen gegenüber Veränderungen verschließen sollte, so gilt es doch, nicht herbeizureden, was noch gar nicht existiert. In welcher Zeitung in der Türkei gibt es bei der Bezeichnung des Armeniermassakers während des Ersten Weltkrieges als Völkermord keinen Aufschrei? Selbst die englischsprachige, an ein „westliches“ Publikum gerichtete Turkish Daily News, die zwar ganzseitig von Kongressen zum Kurdenproblem in den USA – weitab des Orts des Geschehens – berichtet, schreit laut auf, wenn dem demokratischen Präsidentschaftsbewerber Kerry ein offenes Ohr für die armenische Frage nachgesagt wird. In diesen Tagen wird ausführlich über eine Kampagne der türkischstämmigen Einwohner der Vereinigten Staaten berichtet, die Kerry verdeutlichen soll, dass sie, wenn er weiterhin die Verfolgung der Armenier auf die politische Agenda setzen will, Busch wählen werden.

Doch auch in der Türkei selbst bedarf es nur eines Blicks auf die Homepage der Seite der Regierung in Ankara, um sich zu vergewissern, wie fern solche Zeiten sind: Dort wird – in verschiedenen Sprachen – aufgeklärt, dass das eigentliche Massaker nicht die Armenier traf, sondern andersherum alle anderen Bewohner des Osmanischen Reichs Opfer wurden. […]

Was übersehen wird, ist, dass die Negation des Mordes an hunderttausenden von Armeniern ein Glied in der Kette des türkischen Nationalbewusstseins ist, das seit den 1920er-Jahren geschaffen wurde, um die junge Nation zusammenzuschmieden und einen weiteren Zerfall zu verhindern, wie das Osmanische Reich ihn erlebte. Die Schaffung eines türkischen Staatsvolks, dessen Stolz auf seine eigene Existenz die Kinder in hiesigen Schulen noch heute (!) und allwöchentlich, militärisch aufgestellt, hinausschreien müssen, ließ keinen Platz für andere, nicht für Kurden, nicht für Griechen, nicht für die Pontus-Griechen der Schwarzmeerküste, und strich sie auch gleich aus der vorhergehenden Geschichte. […]

ANDREA NEUGEBAUER, Ankara, Türkei