Die Kanalarbeiter


aus Seeheim und Berlin JENS KÖNIG

Wenn Karl Hermann Haack in diesen Tagen vor seinen Genossen Sozialdemokraten im Wahlkreis spricht, muss er zunächst eines klarstellen. „Worüber reden wir heute“, fragt er dann, „über Bangladesch oder über die Bundesrepublik?“

Die ersten Zuhörer fangen an zu schmunzeln. „In Bangladesch sind 90 Prozent der Menschen arm, in Deutschland nur zehn Prozent“, hält Haack fest. „Die meisten bei uns gehen kostenlos zur Schule, fahren ein Auto und haben einen tariflichen Anspruch auf Weiterbildung.“ Die Stimmung im Saal steigt weiter. Aber Haack ist noch lange nicht fertig. „In Schweden kriegen sie ab 70 keine neue Hüfte mehr. In England warten sie zweieinhalb Jahre auf eine Prostatakrebsbehandlung. Bitte mal melden: Wer in diesem Saal kriegt keinen Urlaub, wenn er Arbeit hat, wer bekommt kein Weihnachtsgeld, wer hungert?“

Plötzlich lachen alle. Sie glauben, sie haben Haack verstanden. Aber der wickelt seine Genossen gerade um den kleinen Finger. „Unsere Gesellschaft ist in einer tiefen Krise“, sagt er mit einem Mal. „Jahrelang haben wir über unsere Verhältnisse gelebt. Und heute bricht wegen zwei Euro Rentenkürzung gleich eine kollektive Depression aus.“ Im Saal ist es wieder still. „Wenn wir die Strukturen nicht schleunigst ändern …“, Haack macht vor seiner großen Pointe eine kleine Pause, „… dann wird die allselig machende Bundesrepublik das gleiche Schicksal ereilen wie die DDR. Sie wird implodieren. Aber wie.“ Keiner klatscht. Es sieht aus, als geht es doch um Bangladesch.

Niemals Brioni

Karl Hermann Haack erzählt gern solche Geschichten aus seinem Wahlkreis. Aber er ist kein Apokalyptiker. Er ist Sozialdemokrat. Einer, der schon August Bebel gefallen hätte. Er ist groß und redet mit vollem Körpereinsatz. Wenn er sein Jackett auszieht, kommt darunter ein blaues zerknittertes Hemd zum Vorschein. Er würde nie einen Anzug von Brioni tragen.

„Ich rede Klartext“, sagt Haack. „Immer offenes Visier.“

Haack ist 63 Jahre alt. Apotheker. In der Kommunalpolitik groß geworden. Mit 33 im Kreistag im westfälischen Lippe, mit 39 Bürgermeister in Extertal. Seit 15 Jahren sitzt er im Bundestag. Er ist Behindertenbeauftragter der Regierung. Er findet, die Politik nimmt die kleinen Leute nicht mehr ernst. „Diese Spindoctoren, die der Schröder da hat, das sind doch alles Außerirdische“, sagt er. „Die haben ein Budget von 160 Millionen Euro und sind nicht in der Lage, den Wählern unsere Politik zu erklären.“

Immer Klartext. Bei Haack weiß man nie genau, ob er von links oder rechts zuschlägt. „Ich habe eine klassische politische Karriere hinter mir“, sagt er. „Ich bin links unten rein und rechts oben raus.“

Rechts oben, das ist der „Seeheimer Kreis“. Er versammelt die konservativen SPD-Bundestagsabgeordneten. Die Pragmatiker, wie sie sich selbst nennen. Die, die das ewige Theoretisieren der Linken satt haben. Die Prätorianergarde des Kanzlers. Der Abgeordnete Haack ist, neben Reinhold Robbe, einer der beiden Sprecher der „Seeheimer“.

„Was heißt hier ‚rechte Sozialdemokraten‘?“, fragt Günther Metzger mit gespielter Entrüstung. „Ich würde sagen, wir sind die vernünftigen Sozialdemokraten.“ Metzger fährt seinen neuen Citroën bedächtig Richtung Seeheim-Jugenheim, einer kleinen Gemeinde bei Darmstadt, am Ausläufer des Odenwaldes. Er ist 70 Jahre alt. Er war selbst mal ein „Seeheimer“. Er hat diesen Kreis 1974 mitbegründet. Als Gegengewicht zu den immer stärker werdenden Linken in der SPD.

Metzger ist ein freundlicher, sanfter älterer Herr. Im Auto erzählt er lustige Geschichten über seine Enkel. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass Metzger früher bedingungslos gegen die Linken in seiner Partei gekämpft hat. Gegen die Schröders, Engholms und Wieczorek-Zeuls. „Als ich 1978 den Nato-Doppelbeschluss verteidigte, haben die mich fast gesteinigt“, erzählt er. Und heute? Ist Schröder selbst Kanzler, und die Linken machen ihm das Leben schwer. „Es fällt mir schwer, nicht schadenfroh zu sein“, sagt Metzger offen.

Kontinuität hält er für das Wichtigste. Seit 50 Jahren ist er mit seiner Frau verheiratet.

„Das hier ist mein Gebiet“, sagt Metzger und bringt sein Auto in Seeheim zum Stehen. In dieser Gegend macht er bis heute seine Waldläufe. Im Mühltal, auf der anderen Seite des Odenwaldes, wohnt er. Mitten in dieser malerischen Landschaft ragen fünf Betontürme in die Höhe: das Bildungszentrum der Lufthansa. Ein typischer 70er-Jahre-Bau. Praktisch. Alles Einzelzimmer, keines größer als 15 Quadratmeter, kein Fernseher, keine Minibar. Hier in Seeheim hat man den Blick frei fürs Wesentliche.

Kein Schnickschnack – das passte zu den rechten Sozialdemokraten vom „Lahnsteiner Kreis“, der sich 1973 unter Hans-Jochen Vogel in Lahnstein am Rhein gegründet hatte. Und so trafen sie sich ab 1974 regelmäßig hier im Schulungszentrum in Seeheim. Fortan nannten sich die „Lahnsteiner“ die „Seeheimer“.

„Das Gute an Seeheim war“, erinnert sich Metzger, „dass abends keiner wegkonnte.“ Ungefähr alle sechs Monate kamen die „Seeheimer“ fast zehn Jahre lang hier zum politischen Familientreffen zusammen. Große Strategien haben sie ausgetüftelt, Parteitage vorbereitet, Posten vor den Linken gesichert.

Die „Seeheimer“ praktizierten eine gehobene Form der sozialdemokratischen Vereinsmeierei. Wenn man sich damit beschäftigt, brummt einem der Schädel vor lauter rechten und linken und gemäßigten Kreisen, die es in den vergangenen 50 Jahren in der SPD gegeben hat: „Seeheimer“, „Lahnsteiner“, „Leverkusener“, „Frankfurter“ und nicht zu vergessen die „Kanalarbeiter“.

Die „Kanalarbeiter“ waren die Vorläufer der „Seeheimer“. Gegründet in den 50er-Jahren, stark gewerkschaftlich geprägt, antiintellektuell. SPD-Rechte ohne Abitur. Sie vertraten damals die große Mehrheit der SPD-Fraktion. Ihr Gründer, Chef und Herrscher war Egon Franke, genannt Canale Grande. Franke war autoritär. Ein Linkenfresser. Später unter Willy Brandt Minister.

Besoffen zu den Indern

Die „Kanalarbeiter“ hießen auch „Freunde sauberer Verhältnisse“. Die Vorkämpfer für Haack’schen Klartext sozusagen. Programmatische Fragen waren ihnen zuwider. Lieber trafen sie sich in der legendären Bonner Kneipe „Rheinlust“, immer Dienstagmittag in der Sitzungswoche, ließen Listen kreisen, auf denen sie die Posten der Fraktion unter ihresgleichen verteilten, spielten Skat und tranken ihr Bier. Wenn sie nachmittags zurück ins Plenum mussten, ließen sie die Fahrbereitschaft des Bundestages zur Tarnung zur Indischen Botschaft kommen, die gegenüber der „Rheinlust“ lag. So viel Stil musste sein. Besoffen direkt aus der Kneipe wollten sich die „Kanalarbeiter“ nicht abholen lassen.

„Wir waren keine Antialkoholiker“, sagt Günther Metzger über die 70er- und 80er-Jahre. „Aber wir waren mehr als ein Verein für Postenschacher und Saufgelage.“

30 Jahre später sieht die Welt der „Seeheimer“ wieder ganz anders aus. Sie haben an Einfluss verloren. In der SPD-Fraktion sind sie inzwischen in der Minderheit. Sie haben kaum Junge, nur wenige Frauen. In Schröders Regierung sitzt kein einziger „Seeheimer“ mehr. Von den 251 Abgeordneten zählen sich 70 zum rechten Flügel. Wenn es ihn denn noch gibt. Die politischen Lager lösen sich langsam auf. Neben den „Seeheimern“ und der „parlamentarischen Linken“ gibt es jetzt noch die „Netzwerker“, die Jungen. Es soll Abgeordnete geben, die schon in allen drei Kreisen vorbeigeschaut haben, ohne dass sie hinterher geistig verwirrt gewesen wären.

Ein paar Rituale der „Kanalarbeiter“ haben im „Seeheimer Kreis“ überlebt: die Spargelfahrt im Sommer, das Gänseessen vor Weihnachten, der „Mittagstisch“ dienstags vor der Fraktionsssitzung. Und ihren Kanzler, den schützen sie immer noch fast bedingungslos vor jedem Angriff.

Wobei auch das in diesen turbulenten Monaten nicht mehr zuverlässig vorherzusagen ist. Wenn man sich in den geheimen „Seeheimer Mittagstisch“ schleicht, in den Saal „Sachsen“ in der Parlamentarischen Gesellschaft, dann wackeln einem die Ohren, so sehr schimpft die Schutztruppe des Kanzlers auf dessen Regierung. „Wir teilen den Rentnern mit, dass sie die nächsten drei Jahre Nullrunden zu erwarten haben“, ruft ein Abgeordneter erregt, „kann mir mal jemand sagen, warum die uns noch wählen sollen?“

„Habt ihr die neuen Plakate zur Agenda 2010 gesehen?“, fragt ein anderer. „Die sind einfach Scheiße. Meine erwachsenen Kinder fragen mich schon, warum ich so etwas zulasse.“

Karl Hermann Haack könnte sich freuen. Alles Klartext. Aber hinterher möchte er es doch gern einordnen. „Das ist keine Kritik am Kanzler“, versichert er. „Seine Agenda 2010 ist richtig. Aber sie wird schlecht verkauft.“

Das ist das Prinzip der „Seeheimer“: Hinter verschlossenen Türen können sie sich notfalls die Köpfe einschlagen, aber wenn sie rauskommen, wird der Schlips wieder gerade gerückt und der Mund gehalten. Zweimal im Jahr treffen sie sich mit Schröder. Alle zwei Wochen frühstücken sie mit einem der Minister. Kritisieren. Bieten ihre Hilfe an. „Seeheimer“ arbeiten lieber im Verborgenen. Sie rücken nicht alles ins grelle Licht. Kanalarbeiter eben.

Wer das nicht versteht, dem fehlt der Blick fürs Wesentliche. Hans-Jochen Vogel hat diesen Blick. Er war schließlich mal Partei- und Fraktionschef. Die SPD funktioniert für ihn heute genauso wie früher. Mal gibt es Streit, dann ist wieder Ruhe. Wenn nur nicht die Journalisten wären. „Deren Urteil ist schon erstaunlich“, sagt Vogel. „Entweder sind die Seeheimer, wie heißt es so schön, die Prätorianergarde des Kanzlers oder eben ein zerstrittener Haufen. Und beides schreiben dieselben Kritiker.“ Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Kaffeetassen heben ab. Manchmal versteht sogar Vogel die Welt nicht mehr. „Kinder, Kinder“, seufzt er, „wo sind wir eigentlich?“

Haack hatte den heutigen Kanzler schon lange auf seiner Liste. Die beiden kennen sich seit über 30 Jahren. Haack vertritt den Wahlkreis Lippe, also die Gegend, in der Schröder geboren und aufgewachsen ist. Das verbindet. Darauf bildet sich Haack auch etwas ein. Im Machtkampf mit Lafontaine standen die „Seeheimer“ von Anfang an auf Schröders Seite. Weil der die SPD modernisieren wollte.

Schröder war stinkig

„Auf die Seeheimer konnte sich der Kanzler noch immer verlassen“, sagt Thomas Steg, Schröders Regierungssprecher. Aber was ist in dem Dauererregungszustand der Politik heute schon noch von Dauer. Neulich hat Haack dem Kanzler gesagt, wenn die Regierung so weitermache, dann könne er ihm nicht länger versprechen, dass die „Seeheimer“ immer an seiner Seite stünden. „Der war hinterher vielleicht stinkig“, erzählt Haack.

Ausgerechnet jetzt, wo er in seiner Karriere rechts oben rausgekommen ist, erinnert Karl Hermann Haack manchmal daran, dass er links unten reingegangen ist. Er zitiert plötzlich Mao und meint, die Sozialdemokraten müssten sich im Volk bewegen wie der Fisch im Wasser.

„Ich hab’ meinen Mao gelernt“, sagt Haack. „Ich war mal Sponti.“