: „Es gibt keine antikatholische Verschwörung in Europa“, sagt Gianni Vattimo
Nach Buttigliones Niederlage in Brüssel inszenieren sich die Katholiken als verfolgte Minderheit – zu Unrecht
taz: Herr Vattimo, Rocco Buttiglione ist spektakulär gescheitert. Hat also die von ihm beschworene antikatholische Verschwörung in Europa gesiegt?
Gianni Vattimo: Ich kann keine antikatholische Verschwörung sehen. Buttiglione ist ja nicht nur Katholik – er ist katholischer Integralist [orthodox-konservative Strömung, A. d. R.]. Schauen Sie: Auch ich bin gläubiger Katholik, aber ich bin kein Integralist.
Buttiglione und seine Parteigänger sehen aber eine frontale Attacke der Feinde des Christentums – eine antiliberale Attacke, die den Christen ihre Gewissensfreiheit bestreite.
Jene, die anderen ihre Wahrheiten aufoktroyieren wollen, sind doch die Katholiken à la Buttiglione. Wenn einer sagt, „Scheidung ist verboten“, und der andere antwortet: „Wer will, soll sich scheiden lassen können“ – wer von den beiden ist liberal? Keiner will doch Buttiglione zwingen, sich scheiden zu lassen. Er dagegen möchte andere Leute zwingen, sich nicht scheiden zu lassen, und er möchte auch die Homosexuellen schlecht behandeln. Gustavo Contadini, ein übrigens katholischer Professor, hat das vor Jahren auf den Punkt gebracht: „Wenn die Katholiken sich in der Minderheit fühlen, dann reden sie gern von Freiheit. Kaum aber wähnen sie sich in der Mehrheit, dann reden sie nur noch von der Wahrheit, die sie den anderen verordnen möchten.“
Buttiglione behauptet das Gegenteil. Als guter Katholik sehe er Homosexualität als Sünde – aber er trenne zugleich zwischen Moral und Recht.
Das mag er sagen, und er mag sogar glauben, dass die Dinge so liegen. Praktiziert hat er aber immer das Gegenteil. Wann immer Buttiglione konnte, hat er katholische Glaubenssätze in bürgerliches Recht umgesetzt. Nehmen wir nur das letzte Beispiel aus der Schule. In unseren Staatsschulen gibt es nicht nur obligatorischen Religionsunterricht. Jetzt, unter dieser Regierung, in der Buttiglione Minister ist, werden auch gleich 13.000 Religionslehrer in den Staatsdienst übernommen, Religionslehrer, die von den Bischöfen bestellt sind und auf deren Auswahl der Staat keinerlei Einfluss hat. Und warum haben Buttiglione und seinesgleichen immer ihre Kampagnen gegen die Ehescheidung durchgezogen? Wenn sie könnten, würden sie die Scheidung verbieten, und das Gleiche gilt für die Abtreibung. Die Trennung von Moral und Recht fällt Buttiglione bloß dann ein, wenn er nicht stark genug ist, seine Vorstellungen durchzusetzen.
Aber auch viele liberale Kommentatoren haben in Zeitungen wie dem Corriere della Sera beklagt, dass die Christen, die Katholiken, in Europa in die Ecke gedrängt würden.
Ich frage mich, in welcher Realität die leben. Angefangen in Italien tragen die Katholiken doch ihre Prinzipien sehr offensiv vor. Das fängt in der Schule an, die bei uns immer mehr dem Vatikan unterworfen wird, gegen jedes Verfassungsprinzip. Wo steht denn geschrieben, dass die Katholiken ihre Rechte nicht wahrnehmen können? Gewiss, wenn sie es als ihr Recht betrachten, die künstliche Befruchtung zu verbieten, die Abtreibung zu verbieten und stattdessen schon Embryonen Persönlichkeitsrechte zuzusprechen, dann ist das in meinen Augen ein purer Exzess. Da ist nichts liberal dran. Trotzdem finden die Katholiken jetzt Zuspruch aus liberalkonservativer Ecke. Meiner Meinung nach sind das Liberalkonservative, die auf die Katholiken als Massenbasis vor allem der Konservation setzen und darüber ihre Liberalität hintanstellen.
Eben diese Liberalen werfen aber der Linken vor, sie verrate heute ihre Prinzipien. Sie sei nicht mehr Vertreterin der kleinen Leute, sondern Sprecherin eines individualistischen, hedonistischen Mittelstands.
Das mit dem Hedonismus-Vorwurf hat gerade in Italien eine lange Geschichte. Bei uns waren es die Kommunisten, die vor 30 Jahren den Bürgerrechtlern von der Radikalen Partei vorhielten, sie seien mit ihrem Kampf für Ehescheidung, für Abtreibung, für die Rechte der Homosexuellen bloß „bürgerliche Hedonisten“. Vergessen wir nicht, dass Pier Paolo Pasolini aus der KPI geflogen war, weil er schwul war. Es entbehrt nicht der Ironie, dass jetzt Liberale oder Möchtegern-Liberale diesen alten antiliberalen Vorwurf aus der Kiste holen und gegen die Linke wenden.
Sie waren bis 2004 im Europäischen Parlament. Haben Sie dort je eine antikatholische Lobby am Werk gesehen?
Romano Prodi ist bekanntermaßen praktizierender Katholik; niemand hat ihm das je vorgeworfen. Mario Monti ist ebenfalls Katholik, und im EP hatten wir auch in der Gruppe der Linksdemokraten diverse praktizierende Katholiken. Bis 2004 wenigstens hat es eine solche „Lobby“ gegen die Katholiken nie gegeben. Das ist eine Beschwerde, die mich an das Lamento Berlusconis erinnert. Der meint ja auch immer, er sei von den „Kommunisten“ bedroht. Das sind einfach freche Lügen, an die sie selbst nicht glauben. INTERVIEW: MICHAEL BRAUN