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Archiv-Artikel

Ein Traum entfernt sich

aus Leipzig JÖRN KABISCH

Noch 14.448 Stunden, 23 Minuten und 17 Sekunden. Die Uhr am Leipziger Sportforum zählt unerbittlich. Neun Meter hoch steht sie auf frisch angesätem Grün, aus blinkendem Kupfer, drum herum Bänke. Auf einer haben sich zwei junge, rasierte Männer in Anzügen niedergelassen. Sie kämen aus den USA, aus Utah, erzählt der eine, er heißt Heiner Elden. Zwei Mormonen also. Klar waren sie bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City. Dass sich Leipzig für 2012 bewirbt? Nie gehört. Dass die Kupfersäule was damit zu tun hat? Auch nicht. Und erst recht nicht, dass es Stimmen gibt, die den Countdown anhalten wollen.

Noch 14.448 Stunden, 15 Minuten und 14 Sekunden. Nicht einmal zwei Jahre bleiben, bis im Juli 2005 das Internationale Olympische Komitee (IOC) endgültig entscheidet, welche Stadt die Spiele 2012 austragen wird. Vielleicht wird es London sein oder New York. Vielleicht aber auch Leipzig, der Außenseiter, schon allein weil es keine Metropole ist, sondern eine Stadt, in der ratternde Straßenbahnen bereits nach zehn Minuten die Stadtgrenze passiert haben.

Noch 14.448 Stunden, 10 Minuten und 47 Sekunden. Hier, an einer der Hauptachsen Leipzigs, hat für die Digitalanzeige hoch über dem morgendlichen Verkehr, der in die Innenstadt drängelt, kaum jemand einen Blick übrig. Auch die Frau, die an der Straßenbahnhaltestelle „Sportforum“ wartet, muss dazu überredet werden. „Ist doch noch ziemlich lang hin“, sagt sie achselzuckend. „Aber bis zum Mai, bis dahin haben die keine Zeit mehr.“

Die Leipziger kennen sich mit der Prozedur für Olympia bestens aus. Die Frau an der Haltestelle meint die Sitzung des IOC im Mai nächsten Jahres, wenn das Bewerberfeld auf fünf Städte verkleinert wird. Und Leipzig will in die letzte Runde. Mindestens. „Das sind wir uns doch schuldig seit dem zwölften vierten“, sagt die Frau. Zwölfter vierter. Klingt wie Nine Eleven.

Es war der Heldentag des Jahres. Zehntausende standen auf dem Leipziger Markt und verfolgten auf der Leinwand den Wettstreit der deutschen Olympiabewerber in München. Hamburg, Stuttgart und Düsseldorf waren die Favoriten. Die Menschen sahen den Bewerbungsfilm, in dem eine sympathische Leipzigerin in Silber durch die Stadt lief, und ihren Oberbürgermeister auf der Bühne Cello spielen. Leipzig gewann. Auf dem Marktplatz war die Hölle los. Seitdem ist es den Leipzigern ziemlich ernst mit Olympia.

Klimatisierte Zigarren

Noch 14.447 Stunden. „Ganz schön blöd, wenn man über Nacht zum Star wird.“ Das „Lucky-Strike-Plakat“, das an der Haltestelle wie überall an Litfaßsäulen klebt, bringt die Lage, in die Leipzig sich inzwischen gebracht hat, unversehens auf den Punkt. Die Kandidatur steckt fest. Die Sympathien für den jungen Matadoren sind verbraucht, statt Frische strahlt das Gesicht Erschöpfung aus, und, wie bei jedem Durchhänger eines Neulings, die Neider melden sich gern.

Angefangen hat es mit der Kündigung von Dirk Thärichen, dem Geschäftsführer der Bewerbergesellschaft Leipzig 2012 GmbH. Nicht sein verdruckster Umgang mit seiner Zeit als Soldat in einem Stasi-Regiment wurde ihm zum Verhängnis, sondern der Verdacht unsauberer Geschäftspraktiken. Seitdem versuchen die sächsische Regierung und Stadt krampfhaft, Bewerbung und Politik zu entflechten und keine Angriffsfläche für Vorwürfe der Vetternwirtschaft mehr zu geben. Eine Leiche nach der anderen wanderte aus dem Keller. Erst traf es Wolfram Köhler, den Olympia-Staatssekretär, als Riesaer Bürgermeister offenbar einer, der früher gern gekungelt hat. Und dann Burkhard Jung, den städtischen Olympia-Beauftragten. Er habe gemeinsam mit Thärichen ungerechtfertigte Provisionszahlungen genehmigt, lauten die Vorwürfe gegen ihn. Jung trat ebenfalls zurück. Seitdem sind die Zweifler richtig laut geworden. Jede Kleinigkeit reiche, das IOC zu verschrecken. Und vier Wochen voll von unappetitlichen Personalfragen seien mehr als ein kleiner Durchhänger.

Noch 14.446 Stunden. „Wir sind schon ziemlich traurig“, sagt Margit Wartig in ihrem Kiosk in der Innenstadt und meint damit auch ihre Kunden. Die schimpften ganz schön, sagt die 64-Jährige und gerät selbst in Rage. Sie kommt hinter dem Tresen vor. „So einen wie den Thärichen, den hätte man doch vorher prüfen müssen.“ Dabei brauche die Stadt Olympia. Dringend. „Das ist unsere große Chance – bei all den Arbeitslosen, bei all den Häusern, die hier leer stehen.“ Sie zeigt auf den Humidor, der neben dem Zigarettenregal steht. Man muss der Welt was bieten, wenn die nach Leipzig kommt. Gut klimatisierte Zigarren gehören dazu. „Was soll ich denn jetzt mit dem machen?“ Aber man solle das nicht falsch verstehen. „Wir stehen schon noch hinter der Bewerbung – aber auf kippligen Beinen“, sagt sie zum Abschied.

„Wir dürfen jetzt nicht wie das Kaninchen vor der Schlange stehen“, zitiert Björn Achenbach einen Satz des Leipziger Oberbürgermeisters Wolfgang Tiefensee. „Aber es ist umgekehrt: Wir stehen längst wie ein Kaninchen vor der Schlange.“ Achenbach ist der Chefredakteur des Kreuzers, eines Stadtmagazins mit einer richtigen Hausmitteilung, wie beim Stern oder beim Spiegel. Noch vor über einem halben Jahr hat Achenbach „Die geeinte Stadt“ getitelt und ein Kartenspiel mit dem Namen „Go for Gold“ aufgelegt. Da war die Stimmung schon greifbar, die im April auf dem Markt herrschte. „Junge Studenten aus dem Westen standen jubelnd neben graugesichtigen Ostrentnern“, erinnert sich Achenbach. Im nächsten Heft feierte das Magazin Tiefensee dann als „Heldenstadtheld“, und Achenbach bedauerte in einer Hausmitteilung ironisch, dass auf dem Markt keine „Wolle, Wolle“-Rufe zu hören waren. „Heute“, sagt er, „steht Tiefensee ziemlich allein da.“ Viele Leipziger seien ernüchtert. „Die Stadt ist wie gelähmt.“

Ritter von der traurigen Gestalt

Noch 14.445 Stunden. Der Olympia-Shop auf dem Markt, der laut Internetseite schon über 12.000 T-Shirts und fast 2.500 Basecaps verkauft hat, ist geschlossen. Das Messehaus wird saniert, im Ladenraum sind herausgerissene Telefonkabel verstreut. Und so wie in der Kreuzer-Redaktion drei Exemplare von „Go for Gold“ ganz hoch aufs Regal gepackt wurden, sind die Marketingartikel im 3. Stock gelandet. Kaum erkennen kann man sie im Kaufhof neben den Regalen mit Bayern-München-Trikots, -Kappen, -Schlafanzügen und -Bettwäsche. Daneben zwölf Olympia-T-Shirts und ein paar Anhänger. „Neue Ware kommt erst Ende November“, sagt die Verkäuferin.

Noch 14.444 Stunden. Es ist 13.18 Uhr. Fahrplanmäßiger Halt des ICE 1558 auf Gleis 10. Auf der Zugnase müsste es eigentlich prangen, das Signet der Spiele. Eine nach rechts züngelnde Flamme in den Farben der olympischen Ringe. Ende September ist er erstmals aus dem Bahnhof gerollt. Heute sieht der ICE 1558 aus wie jeder andere Intercityexpress. Ein Rangierer sagt: „Das Logo haben sie einen Tag später wieder abgepopelt.“

Die Bewerbung sei weit davon entfernt, eine nationale zu sein, bemängelt Hinrich Lehmann-Grube. Er ist Wolfgang Tiefensees Vorgänger und sein Ziehvater. „Das Ganze hat nur Erfolg, wenn es am Ende heißt: ‚Olympia nach Deutschland‘ und nicht nur ‚Olympia nach Leipzig‘.“ Lehmann-Grube ist zornig. Er spricht von einer „Kampagne“ aus dem Westen, und das heißt was, er ist selbst Westdeutscher. Vor allem der feindselige Ton in den Medien, wie zum Beispiel Wolfgang Tiefensee als „Ritter von der taurigen Gestalt“ gezeichnet werde, macht ihn wütend. Lehmann-Grube ist in Sachen Olympia viel unterwegs. „Die Stimmung unter den Leipzigern ist sehr gedrückt und schwankt zwischen Zorn und Unverständnis“, sagt er und hofft, dass ein „gewisser Protestdruck unter den Leipzigern entsteht“.

Noch 14.443 Stunden. Ein Mann in der Straßenbahn überfliegt die Olympia-Seite der Leipziger Volkszeitung, wackelt ungeduldig mit den Mundwinkeln und blättert weiter. Hier in Connewitz will man einen anderen Protestdruck erzeugen. „Aber“, sagt David Salomon, „gerade wird uns ja die Arbeit abgenommen.“ Salomon ist Sprecher des Antiolympischen Komitees (AOK), der einzigen sichtbaren Olympiagegner in Leipzig. Sie üben nicht nur prinzipielle Kritik an den Spielen als „kapitalistisch-nationalistischer“ Veranstaltung. Die begeisterte Vision der Stadtplaner, durch Olympia überspringe Leipzig zehn Jahre, macht ihnen Angst. „Was herauskommt, ist ein sauberes Stadtbild. Dafür wird es Vertreibungen geben und noch mehr Kameraüberwachung als heute schon“, sagt Salomon. Die rund 20 AOKler haben es nicht leicht. Schon ein Postfach zu organisieren kostete sie Mühe. „Sogar die PDS hatte Schiss, dass sie mit uns Wählerstimmen verliert.“

Noch 14.442 Stunden, 18 Minuten und 13 Sekunden. Janet Pilz ist nur spätabends am Telefon zu erreichen. Ihr Terminkalender ist voll. Die Studentin ist damals im Bewerbungsfilm durch Leipzig gerannt. Seitdem tritt sie, hauteng in Silber gekleidet, als „olympischer Spirit“ auf, wenn ein Aufkleber auf einen Zug geklebt wird oder mögliche Sponsoren zum großen Dinner geladen sind. Gerade war sie in Essen, dann in Berlin, am nächsten Tag hat sie einen Auftritt in Leipzig. Sie bittet um Verständnis, dass sie nichts zur Politik sage. „Denn Leipziger Löwen fragen Sie ja auch nicht.“ Sie findet nur, es gebe genug Anlass, dass Leipzig sich „jetzt erst recht“ bewirbt. Janet Pilz hat wenig Zeit. Noch 14.442 Stunden, 15 Minuten und 12 Sekunden.