piwik no script img

Archiv-Artikel

Wer spricht schon Lettisch

Im Europa der 25 geht es zu wie auf einer Baustelle. Neue Interessengruppen müssen sich erst herausbilden, und dann ist da noch das Sprachproblem

Das Wort „Euro“ macht in unseren Sprachen keinen Sinn, sagen die Letten. Und wollen die Währung umbenennen

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Bevor die Europäische Union zehn neue Mitglieder bekam, ist viel über die Fußballfelder geschrieben worden, die künftig für Konferenzen gebraucht werden – wegen der vielen Dolmetscherkabinen. Inzwischen haben sich alle daran gewöhnt, dass die Konferenzsäle gleich groß geblieben sind und die Dolmetscherkabinen übereinander gestapelt werden wie Container auf einer Baustelle. Wenn man manchmal einen typisch tschechischen oder ostpreußischen Tonfall auf dem Kopfhörer hat, erinnert man sich daran, dass es noch immer nicht genug Dolmetscher gibt, die aus den neuen Mitgliedssprachen in ihre eigene Muttersprache übersetzen können.

Die tägliche Arbeit wird dadurch nicht gestört. Viel ärgerlicher ist der Gesetzesstau. Er entsteht, weil nun alle offiziellen Dokumente in alle 20 Mitgliedssprachen übersetzt werden müssen, bevor sie im Europäischen Amtsblatt erscheinen können und in Kraft treten. Weil es mit der Übersetzung hapert, sind die Mindeststandards für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus, auf die sich die Innenminister schon Ende März geeinigt hatten, noch immer nicht in Kraft.

Es mag Mitgliedsländer geben – in diesem Fall Deutschland –, die für eine gemeinschaftliche Asylpolitik nicht viel übrig haben und über die Verzögerung ganz froh sind. Vom schleppenden Entscheidungsprozess in den Ratsgremien mit ihren nunmehr 25 Mitgliedern ist allerdings keiner der Teilnehmer begeistert. „Eine enorme Disziplin ist nötig, sonst läuft gar nichts mehr“, hat der polnische EU-Botschafter Marek Grela bereits festgestellt. Die Bedeutung der Präsidentschaft sei enorm gestiegen. Wenn sie nicht vor der Sitzung schon nach Kompromissen suche, sei alles blockiert.

Ein gutes Beispiel für die neue Vielfalt der Interessen, die Kompromisse erschwert, war die letzte Justizministersitzung in Luxemburg. Es lag ein Vorschlag für eine Rahmenrichtlinie auf dem Tisch, die Meeresverschmutzer europaweit mit strengeren Strafen belegen soll. Spätestens seit dem Unfall des Tankers „Prestige“ schien die Einigung nur eine Formsache. Dann aber meldeten sich drei Ländervertreter zu Wort, die das Gesetz abmildern wollen. Sogar wenn der Kapitän vorsätzlich Öl abgelassen hat, soll er außerhalb des eigenen Heimatlandes nicht mit Freiheitsstrafe bedroht werden können – da waren sich Griechenland, Malta und Zypern einig.

Zypern gehört zu den Zwergen unter den neuen Mitgliedern, sorgt aber für riesigen Ärger. Die Hilfsgelder für Nordzypern sind blockiert, weil die griechischen Zyprioten nur dort Gelder genehmigen wollen, wo die Eigentumsrechte geklärt sind: Das schließt immerhin 85 Prozent des türkischen Inselteils von EU-Hilfen aus. Die Direkthandelsverordnung, die für Zollerleichterungen sorgen sollte, liegt wegen der ablehnenden Haltung der Insel-Regierung völlig auf Eis. „Da redet Zypern gar nicht drüber“, sagt ein Teilnehmer der wöchentlich tagenden Botschafterrunde.

Mit einigen anderen Neulingen gibt es Streit über den Euro. Sie haben ihn zwar noch nicht und hätten ihn recht gern, aber taufen wollen sie ihn neu. Das Wort Euro mache in ihrer Sprache keinen Sinn, sagen Lettland, Litauen, Ungarn, Malta und Slowenien. Die niederländische Präsidentschaft hat als Kompromiss vorgeschlagen, dass diese fünf in nationalen Dokumenten ein anderes Wort benutzen dürfen, es muss aber mit den Buchstaben „eur“ beginnen. Die Banknoten und Münzen sollen weiterhin unverändert Euro heißen.

Im Alltagsgeschäft gewinnt das Englische weiter an Boden. „Die Franzosen haben es vielleicht noch nicht gemerkt“, gluckst ein Mitarbeiter der polnischen Botschaft vergnügt. „Aber die Zeit, wo sie in Europa den Ton angaben, ist endgültig vorbei!“ Die Bürokratie sei zwar nach wie vor nach französischem Muster zugeschnitten, die Auswahlverfahren für Funktionäre seien vom französischen System beeinflusst, aber die Sprache sei auf dem Rückzug – und damit ein Teil des Einflusses derer, die auf Französisch punkten können.

So kommt der Vorstoß der Académie Française zu diesem Zeitpunkt wohl nicht zufällig. Die Institution, die seit 1635 über die Reinheit des Französischen wacht, will das Idiom als offizielle Sprache des EU-Justizsystems verankern. Alle rechtlichen Texte sollen demnach auf Französisch verfasst und erst dann übersetzt werden. Damit könnte „das Risiko abweichender Gesetzesauslegungen auf ein Minimum reduziert werden“, heißt es in dem Aufruf.

Die Erfolgsaussichten des Plans sind gering. Die Union scheint derzeit eher eine Phase der Rückbesinnung auf regionale Eigenheiten durchzumachen und weiterer Vereinheitlichung abgeneigt zu sein. „Small is beautiful“ lautet das Motto, seit ein halbes Dutzend Ministaaten neu zur EU gestoßen sind. Welche Auswirkungen das auf die Achse Berlin–Paris haben wird, lässt sich noch nicht absehen. Manche meinen, der berühmte deutsch-französische Motor werde nun noch mehr als bisher gebraucht. Sonst gehe in der Union gar nichts mehr. Kein Wunder, dass diese Theorie meist von deutschen oder französischen Beobachtern vertreten wird.

Andere sind überzeugt, der EU stehe eine Phase wechselnder Bündnisse bevor. Die großen Staaten würden dadurch an Gewicht verlieren, dass sie von Gruppen kleiner Länder ausgebremst werden, die sich je nach Politikbereich neu zusammenfinden. Der deutsche Einfluss scheint bislang unverändert. Vielleicht wird daran die Verfassung etwas ändern, die bei der Stimmengewichtung im Rat der Tatsache Rechnung trägt, dass Deutschland mit Abstand der bevölkerungsreichste Staat der Union ist.

Die deutsche Sprache aber hat keine Chance, das Englische zu verdrängen, obwohl sie statistisch gesehen dazu geeignet wäre, denn sie ist das Idiom, das die meisten Europäer beherrschen. Lediglich im Europaparlament wird viel Deutsch gesprochen, da im Augenblick die Vorsitzenden der beiden großen Volksparteien Deutsche sind.

Doch auch hier erlebt die Kleinstaaterei eine neue Blüte. Seit die maltesische Regierung demonstriert hat, dass ein Völkchen von 400.000 Einwohnern auf einer eigenen Amtssprache bestehen kann, obwohl Englisch dort ebenso gängig ist, fragen sich die Iren, ob sie nicht zu rücksichtsvoll gewesen sind. Bei der ersten Sitzung des neuen Europaparlaments im Juli richteten einige Redner das Wort auf Gälisch oder Katalanisch an ihre Kollegen – ohne auf Verständnis hoffen zu können, denn Dolmetscher sind für diese Sprachen nicht vorgesehen.

Das Europaparlament wird eine Weile brauchen, bis es Tritt gefasst hat. Zwei Drittel der Abgeordneten erleben den Straßburg-Brüssel-Zirkus mit seinen verwirrenden Ritualen zum ersten Mal. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass sich künftig ein guter Teil ihres Lebens auf Reisen abspielt – vor allem wenn sie aus entlegenen Weltgegenden wie Tallinn oder Limassol anreisen. Dennoch Kontakt zu den Wählern und Parteifreunden zu Hause zu halten und politisch auf dem Laufenden zu sein, ist ein Kunststück, das erlernt werden muss.

Im Parlament hat sich immerhin zahlenmäßig nicht viel verändert. Die Anzahl der Abgeordneten ist kaum gestiegen, Deutschland bildet mit 99 Parlamentariern weiterhin die größte Gruppe. Die Regierungsvertreter im Rat dagegen erleben die neue Situation in Hochpotenz. Ein Botschafter aus den alten Mitgliedsländern malt eine Gauß’sche Verteilungskurve auf ein Stück Papier und sagt düster: „Die Möglichkeiten, wie eine Verhandlung ausgeht, steigen exponentiell. Wir sind jetzt bei 33 Millionen Möglichkeiten, durch Bündnisse zu einer positiven oder negativen Entscheidung zu kommen. Mit Bulgarien und Rumänien werden es 100 Millionen.“

Ein Mathematikprofessor aus Bochum war jüngst in Brüssel zu Gast, um diese Erkenntnis wissenschaftlich zu untermauern. Er hatte ein paar tafelfüllende Formeln mitgebracht, die deutlich machen: Schon jetzt geht im Ministerrat eigentlich nichts mehr. Und es könnte noch schlimmer kommen.

Tatsächlich wird in Brüssel derzeit weitaus mehr über die künftige Erweiterung geredet als über die gerade abgeschlossene Runde. Als die EU-Kommission Anfang Oktober ihre Empfehlung abgab, Verhandlungen mit der Türkei zu beginnen, knallten in der polnischen EU-Vertretung die Sektkorken. „Wunderbar“, schwärmte eine Pressesprecherin. „Dann sind wir endlich nicht mehr die Frischlinge!“

Doch es ist nicht nur dieser psychologische Faktor, der die Neuen gedanklich über die jetzigen Grenzen der Union hinausführt. Ihre geopolitische Lage bedingt eine andere Sichtweise. Wie Deutschland vor ihnen möchten sie einen Puffer im Osten, der ihnen die Sorge um die EU-Außengrenze abnimmt. Der andere Blickwinkel auf die Landkarte rückt die Ukraine als neuen Nachbarn ins Blickfeld. Auch das Sicherheitsbedürfnis an der „Südostflanke“ ist größer geworden und steigert die Bedeutung der strategischen Partnerschaft mit der Türkei. Beim letzten Außenministerrat überraschte der Vertreter Prags die alten Europäer mit seiner lakonischen geostrategischen Analyse: „Die Türkei muss ganz schnell beitreten, damit wir unseren Nachbarstaat Irak dann befrieden können.“

Bedingt durch die historische Erfahrung gehört die Loyalität der Neuen zuerst der Nato und der transatlantischen Allianz, dann erst den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Dennoch ist die Bereitschaft hoch, für den eigenen Schutz die Verantwortung zu übernehmen. „Die Europäische Verteidigungspolitik entwickelt sich so rasant, wie ich es nie für möglich gehalten hätte“, bekennt ein deutscher Diplomat. Nicht die Union sei es, die von der Nato Unterstützung erbitte; immer häufiger trete vielmehr der neue Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer in der Rolle des Bittstellers auf.

Manchem alten Europäer fällt es sicher nicht leicht, sich an die neuen Zeiten zu gewöhnen. Vor allem die Franzosen werden das Gefühl nicht los, dass ihnen in Europa die Felle davonschwimmen. Gelegentlich sind die Neuen aber nützlich, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Während sich trotz großer Vorbehalte und innenpolitischer Widerstände keine der großen Regierungen mehr traut, die Verhandlungen mit der Türkei grundsätzlich in Frage zu stellen, ruhen bei der entscheidenden Abstimmung auf dem Gipfel am 17. Dezember nun alle Hoffnungen auf Zypern. Zyperns Regierungschef Papadopoulos ringt noch mit sich, ob er das Selbstbewusstsein aufbringt, mit seinem Veto die Türkei-Verhandlungen zu blockieren. Der heimliche Dank vieler Ratskollegen wäre ihm gewiss.