piwik no script img

Archiv-Artikel

Bremen. Gebrauchsanweisung

Kultur ist für alle da: Das erfordert ständige Neuordnung und erklärt nebenbei, warum das Verhältnis von Berichterstattung und Leben unausgewogen bleiben muss. Ein Versuch, sich an einem Wochenende kulturbeflissen durch die Stadt zu bewegen

ist, verdammt! Der Bus ist weg. Hämisch blinkt die Uhr: 19:38. Auf den nächsten warten geht nicht: Die letzte Gelegenheit, den „Guten Abend“ zu genießen, ist eben um die Ecke gebogen. Blässlich leuchtet das Supermarktschild. Klar, akademisches Viertel und Gröpelingen das geht nicht gut zusammen. Aber fünf Minuten – das ist hart. Jetzt fährt ein leerer Sitz im Bus Richtung Straßenbahndepot.

Sicher ist auch dort ein Platz reserviert. Eine anklagende Leerstelle im gedrängten Auditorium. Hier hätte der Journalist sitzen sollen, dieser Schurke, und ist einfach nicht gekommen. Die Performances der Kulturwerkstatt Westend sind berühmt, und das Thema, öffentlicher Personennahverkehr: Da hätte es wohl absurde Situationen gegeben.

Allein hinterher? Ins Straßenbahndepot? Eher nicht. Also nach Hause. Die Wäsche! Es ist Wochenende, und die macht sich immer noch nicht von alleine. Keine klammen Finger, alles trocken, und, tatsächlich, es riecht auch noch. Klar, wenn man vergisst, den Hahn aufzudrehen. Na, jetzt wäre das Schleudern zu laut. Es ist zu spät. Auch um wieder in die Stadt zu fahren. Die letzten Bröckchen der Vernissage in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst aufpicken, das befriedigt nicht. Ärgerlich, der Termin konkurrierte mit dem Westend-Abend. Nicht nur weil Künstler Rainer Ganahl eine faszinierende Quasselstrippe ist: Elf Sprachen spricht er und manchmal scheint’s: Alle gleichzeitig. Zur Eröffnung aber war der große Bazon Brock da. Das wäre zumindest interessanter gewesen, als einen Bus zu verpassen.

Dann ist der GAK-Besuch eben auf Sonntag verschoben. Denn da ist der Teerhof fest eingeplant. Dort wird – im Beisein des Künstlers – die große David Abraham Christian Ausstellung eröffnet. An die Osterinseln habe sie gedacht, sagt die Fotografin nach der Vorab-Besichtigung in der Weserburg, „diese riesigen Steinfiguren“. Das trifft’s: So wuchtig wirken die weißen Plastiken, die in einer Reihe nebeneinander stehen. Und dabei sind sie aus Papier. Das ist kaum zu glauben, das müsste man anfassen: Papier, und sieht aus, als wär es Marmor mindestens. „Die Sprache des Menschen“ heißt die Ausstellung. Auch um 11. 30 Uhr wird es um Grundsätzliches gehen: um das, was Kunst bedeuten kann. Wird also wieder nix werden mit dem Kirchgang.

Ja doch, das Zimmerchen könnte ordentlicher sein. Aber das rote Buch empfiehlt, „die Lektionenvor dem Schlafengehen“ zu machen. Und „Bewusstheit durch Bewegung“ zu erlangen, ist reizvoller als Staubsaugen. Also nicht mehr aufräumen, für beides ist es deutlich zu spät, sondern „auf dem Rücken liegend“ die „Arme und Beine ausstrecken“. Das Handy schrillt. Halb 3 Uhr? Wer zum Teufel…? Aber der Akku ist bloß aufgeladen, und die Mobilbox rührt sich: Die Kinder sind ganz aufgeregt. „Bei uns hat’s gebrannt!“ Wie?! „Aber Mama hat’s gelöscht.“ Morgen früh gleich anrufen. Die Kleine sagt „ba- ba“ in den Hörer, zweimal.

Unruhige Nächte rächen sich schnell. Der Biorhythmus ist gestört. Die Augenlider, sonst hart im Nehmen, reagieren flimmernd auf Ödnis: Am Richtweg präsentiert Helmut Baumann sein Musicaltheatermuseum mit lebenden Figuren. Der Freund, der mitgekommen ist, hätte allerdings mehr Grund, danach die Wut rauszulassen. Das Fahrrad hat man ihm während der Aufführung geklaut. Auf dem Weg durchs Rieseln zur Polizei ist aber er es, der beschwichtigt. Er ist Flugzeugmechaniker und respektiert die Arbeitsleistung. „Die haben sich so viel Mühe gegeben.“ Stimmt, das Potenzial ist da: Gutes Ensemble, gute Solo-Stimmen, ordentlich die Philharmoniker. Ob es ihm denn gefallen habe? „Na, geht so.“ Darauf kann man sich einigen.

Großer Vorteil: Von einer faden Premiere lässt sich leicht in den Trott zurückfinden. Die Wäsche muss noch aufgehangen werden. Das geht nach „Kiss me Kate“ problemlos auch am späten Abend. Sonst ist das Risiko von Kultur, den Rückweg in den Alltag zu sperren. Sie packt und lässt nicht los – oft ganz unerwartet: Um kurz vor 18 Uhr hatte Bernhard Wambach den ersten Cluster des Klavierstücks IX von Karlheinz Stockhausen angeschlagen. Als hätte er Sensoren an den Fingern, so exakt vermittelt er vom geräuschhaften Vollklang zum Einzelton, von der Extremlautstärke zum leisesten Pianissimo. Der Kreidegeruch verfliegt, die Wände des spröden Vortragssaales in der Dechanatsstraße schwinden. Und hinein dringt, plötzlich, rasendes Glockengeläut von außen. Nein, keine Störung, und nicht nur, weil’s sich hören lässt als musikhistorische Vorwegnahme: Nur zwei Klavierstücke später, vor etwa 40 Jahren, hat Stockhausen schließlich selbst den Zufall als Element für seine radikal geordneten Tonwelten entdeckt. Aber es geht noch weiter. Es ist ja ein Gedenkkonzert für Konrad Meister: Seine Schüler, wie Wambach und auch sein Sohn Rudolf, längst selbst Rektor einer Musikhochschule, spielen für den vor einem Jahr Gestorbenen. Das Konzert grundiert vom Tod: Das reißt Bedeutungsräume auf.

Kultur, wozu? Das ist eine Kinderfrage. Der Selbstversuch beweist nur, dass auch massiver Darbietungs-Konsum nicht automatisch zum besseren Menschen macht. Sich in erhöhter Dosis Kultur zu verabreichen könnte sogar als Snobismus missverstanden werden. Nur, dass Dandys nicht selbst waschen, und ein Snob löchrige Socken wegschmeißt, lange bevor das Verhältnis Strumpf/Loch kleiner ist als 1.

Aufs Bett werfen, ein Buch lesen. Faszinierend: „La vie –mode d’emploi“, das hieße in Deutsch etwa soviel wie „Gebrauchsanweisung fürs Leben“, ist zwar nicht neu. Aber das macht nichts. 100 Mini-Romane sind über eine Art Schachbrett verteilt und werden nach dem Schema eines Springerzugs miteinander verbunden. Chronologie: ausgeschaltet. Das müsste man mal auf einen Zeitungstext übertragen: Weil das ein Realismus ist, der nicht so tut, als kennte er alles. Stattdessen: Bremen einfach mal auf 16 Themen-Quadrate projizieren, und die nacheinander durchlaufen. Das kann gründlich daneben gehen. Das macht es so reizvoll.

Verdammter Mist, das Lesezeichen ist der Einkaufszettel. Völlig vergessen. Das lässt sich erst Montag nachholen. Aber immerhin, besser als die nicht besuchten Veranstaltungen: Die sind vorbei und vergessen. Auf jeden redaktionell wahrgenommenen Termin kommen mindestens zehn ausgelassene, verrät der Service-Kasten am Fuß der Kulturseite. Erschreckend. Den Kindern wird man das allerdings nicht schreiben können: Ihr Lieben, wenn ich den Bus nicht verpasst hätte, wäre ich nicht zur Ausstellungseröffnung von Rainer Ganahl auf dem Teerhof gegangen, zu der ich auch nicht gegangen bin, obwohl ich den Bus verpasst habe – selbst in Schönschrift: Wer soll das verstehen?

Wie wichtig es gewesen wäre, dorthin zu gehen, lässt sich erst im Nachhinein sagen: Das Thema der Ausstellung „Next target“ ist, grob gesagt, die Auslassung. Ganahl sucht sie auf, wo sie manipuliert – oder Produkt von Manipulation ist. Und dann verpflanzt er die Vereinfachungen. Hauptakteure seiner bildlichen Kritik sind die Schlagworte von Afghanistan- und Irak-Krieg. Eine Serie widmet sich dem Medium Zeitung. Einzelne Seiten, scheinbar willkürlich herausgegriffen, per Hand kopiert; das Layout vollständig, die Texte aber in strikter thematischer Auswahl. Bildlich stärker: Die Arbeiten mit Fernseh-Logos. So hat er weiße Teppiche in afghanischer Handwerkstradition besticken lassen – mit dem Signet des Senders CNN. In einem Video posiert der Österreicher vor einer dieser Seidenfahnen. „Ich habe mir die Haare dafür extra lang wachsen lassen“, kommentiert Ganahl. Das Signalement eines Verdächtigen, der noch dazu in fremdländischem Idiom etwas sagt: Erst auf Arabisch, dann auf Chinesisch, später Japanisch. Schließlich aber auch denselben Satz in deutscher Sprache: „Ich bin kein religiöser Fanatiker“.

Benno Schirrmeister