Der Schmerzensmann

Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: Johannes „Jo“ Rau

Oft sah man ihn mit einem Heftpflaster auf dem Büßerhaupt vor den Kameras stehen

Wissen, wo den Bürger die Hose drückt, das Wort auf die Wunde legen, Menschen und Politiker zusammenführen: So lautete 1999 die Arbeitsplatzbeschreibung für den frisch gesalbten Johannes Rau, dessen Zepter sich nun dem Horizont entgegenneigt. In einem halben Jahr, so verkünden es die Auguren, wird seine Amtszeit sich erfüllen und im Mai 2004 für immer bestattet werden. Doch Johannes Rau darf getrost sein: Er wird nicht vergessen werden, auch wenn sechs Monate eine lange Zeit sein können.

Als Mahner und Künder, als Warner und Rufer, als Deuter und Trachter, so schreibt es das Grundgesetz vor, füllt der Bundespräsident eine Leerstelle, für die Johannes Rau die richtige Besetzung war. „Zivile Konflikte sollten nicht mit Waffengewalt ausgetragen werden, sie dürfen es nicht einmal“, lautet eines seiner bekannten Wahrworte, ausgesprochen als Gastredner auf der Internationalen Jahreshauptversammlung des Internationalen Jahreshauptversammlungsverbandes 2000. „Das Gute ist nicht schlechter als das Böse“, in der Grußadresse 2002 an die Rheinische Kongregation des Ordens zum Heiligen Einhorn der Betenden Hände formuliert, wurde zum geflügelten Bonmot.

Mit dem Menschen um des Menschen im Menschen willen zum Menschen kommen: Das war und ist Johannes Raus Lebensmelodie. Wahrlich, stets sah Rau es als seine Pflicht an, mit warmen Augen Zuspruch abzuseilen. Zwar erreichte er nicht den Idealzustand eines Präsidenten, dessen wohlschmeckendes Wort allen runtergeht wie Öl, so wie es dem Edelmann Freiherr von Weizsäcker gelang, der fast ohne Dünkel mit jedem Thema ins Bett ging. Keiner seiner Nachfolger im Fleische, weder Herzog noch Rau, konnte ihm hier den Knüppel halten.

Worin Rau jedoch alle in die Ecke stellte, war die Kraft des Glaubens an die Kraft des Glaubens. Das am 16. Januar 1931 zu Barmen (bei Elberfeld) geborene Kind eines Evangelisten holte die Kirche aus der Besenkammer und stellte sie ins Herz der Politik, ganz gleich, ob er als Bürgermeister schon durch das finstere Wuppertal wanderte (1969–70) oder als Landespope von Düsseldorf die Nordrhein-Westfalen mit seinem Stecken und Stab tröstete (1978–1998).

Bei den meisten „Menschen“ (J. Rau) schläft der Glaube an Gott schon in den Kinderschuhen wieder ein. Rau indes, der 34 Jahre lang als erwachsener „Mensch“ (s. o.) in der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland und anderen Betkreisen herumfrömmelte, erkannte auf dem Gymnasium mit 17 Jahren die Reife als eitel Tand und predigte fortan die frohe Botschaft in religiösen Verlagen. Zugleich ward Rau politisch erweckt: 1952 trat er der Glaubensgemeinschaft der Gesamtdeutschen Volkspartei bei, die das Wiedervereinigte Paradies verhieß, konvertierte aber 1957, da das Wählerfischen keine Mandate zeitigte, zur SPD, die sich damals irdischen Dingen zuwandte und ihre Marxmonstranzen als Teufelswerk zerstückelte. Rau missionierte im Landtag Nordrhein-Westfalens von 1959 an, wurde 1970 zum Wissenschaftsminister geweiht und 1978 zum Ministerpräsidenten erhöht; nebenbei bekehrte er seit 1964 den Wuppertaler Stadtrat und lehrte seit 1968 Gottes Wort im SPD-Bundesvorstand. Zwar wurde er 1987 als Kanzlerkandidat von Helmut Kohl ans Kreuz genagelt und 1994 als Bundespräsidentschaftsanwärter von Roman Herzog mit Galle getränkt, doch beiden hat Bruder Johannes heute vergeben.

Seit 1999 sitzt er selber auf dem Thron der Gnade. Fürwahr, der Heilige Geist kam nicht über ihn; doch dafür sorgte sein vergänglicher Leib für Anteilnahme hienieden. Nicht nur ließ Rau schon im Jahr des Heils 1992 eine Niere exkommunizieren und Anno Domini 2000 die Bauchschlagader exorzieren. Gern versenkte sich das Lamm Gottes, kaum war es in das irdische Jerusalem seines Berliner Amtssitzes eingezogen, mit dem Kopf voran in eine wild gewordene Stehlampe, die ihm die Stirn bis zu den Zehen aufriss. Auch später sah man den Schmerzensmann oft mit einem Heftpflaster auf dem Büßerhaupt vor den Kameras stehen, wenngleich seine Medienberater stets den Deckel über die Ursache hielten. Ob etwa eine außer Rand und Band geratene Zimmerwand dem Leidenskönig in seiner Verzückung ein Bein zu stellen pflegte, erfuhr die kritische Öffentlichkeit nie. Und dass der heilige Narr beim Gassigehen vom eigenen Hund ins Auge gebissen wurde, ist ebenso bloß Legende wie, dass der Märtyrer bei einem Besuch im Spiegelsaal von Versailles sich selber die Hand schütteln wollte und eine tabernakelgroße Beule davontrug, die der Notarzt um ein Haar mit seinem Kopf verwechselt hätte. Beziehungsweise umgekehrt. Und siehe, diese Passionsgeschichte geht nun bald in die Ewigkeit ein. Hosianna!

PETER KÖHLER