: Brutales Niedersachsen
Osnabrück wollte „Kulturhauptstadt 2010“ werden – Besuch in einer erniedrigten Stadt
„Der Blick sollte selbstbewusst nach vorne gerichtet sein, der einmal eingeschlagene Weg sturhals beibehalten werden.“ Mit dieser Ermutigung beendete Die Wahrheit Ende Juni ihre Berichterstattung über Osnabrücks Teilnahme an der Kür zur „Kulturhauptstadt Europas“. Unterwegs wurde Osnabrück (siehe Die Wahrheit vom 25. 6. 2004) auf nicht ganz lautere Weise vom Mitbewerber Braunschweig ausgestochen, der die Landesregierung ohne den geringsten Leistungsnachweis auf seine Seite gebracht hatte. Jüngst erst zeigte sich erneut die Geisteshaltung des Braunschweiger Banditenvolkes, als dessen Sendboten innerstädtische Bereiche Osnabrücks flächendeckend mit dem Spruch „Der König der Bewerber. Braunschweig und die Region“ beklebten. Eine dermaßen platte Provokation, dass sogar die allgemein als heißblütig bekannten Osnabrücker unberührt blieben.
Vier Monate nach dem ruchlosen Tort hat Die Wahrheit die „Kulturhauptstadt der Herzen“ noch einmal aufgesucht, hat Exil-Osnabrücker und Touristen nach ihren Eindrücken befragt – und entsetzliche Dinge erfahren. Die eingeborenen Osnabrücker wurden von der Niederlage wohl schwerer getroffen, als es zunächst schien. Schwermut lastet über den einst so fröhlichen Einkaufsstraßen, Lebensüberdruss geistert durch die beschaulichen Gassen des kleinen Restchens Altstadt. Allerorten ist Verbitterung spürbar, selbst in den Organen der örtlichen Presse. Das Anzeigenblatt Osnabrücker Nachrichten meldet am 6. 10. 2004 fatalistisch: „Gruselmonster erobern die City“, und berichtet sozusagen im selben Atemzug von einem „Sextäter im Armenholz“ – keine gute Werbung für eine Stadt, die um auswärtige Besucher buhlt.
Das Konkurrenzblatt Osnabrücker Sonntagszeitung verfährt nicht besser. Verleger und Hauptautor Norbert Fuhs, vormals ein unbestechlicher Streiter für den Fortschritt, der noch für jedes kommunale Problem eine Lösung bereithielt, scheint von der Fehlentscheidung seiner Hannoveraner Parteifreunde ins Delirium geworfen worden zu sein und philosophiert am 10. 10. 2004 geistig entrückt über „demoskopische Probleme“, obgleich ihm eigentlich die Demografie am Herzen liegt.
Nicht einmal auf sportlichem Felde ist noch Trost zu finden. Die Nerven der Kicker vom VfL Osnabrück liegen in fast schon pornografischem Maße blank. Die jüngsten Ausfälle sprechen für sich: Am 16. 10. 2004 beim 0:0 des VfL Osnabrück gegen Preußen Münster wurde VfL-Verteidiger Dave de Jong des Platzes, Trainer Wollitz auf die Tribüne verwiesen.
Noch immer wird zwischen Osnabrücker Stadtmauern kulturell Wertvolles geleistet. Aber dahin ist der Mut, der Welt Kunde zu geben. Anfang Oktober wurde ein Filmfestival, das durchaus mit attraktiven Programmpunkten aufwarten konnte, vorsichtshalber im Verschwiegenen abgehalten. Schon ein paar Meter hinter der Stadtgrenze, in Lotte, Hasbergen, Melle, wusste niemand von der Veranstaltung. Die überregionale Presse war – mit Ausnahme der taz bremen – gar nicht eingeweiht. Die Vergeblich- und Vergänglichkeit allen Tuns und Lassens muss dem Personal des beteiligten Illusionsbunkers arg zugesetzt haben, so absent und auf somnambule Weise nachlässig erledigte es die mit dem Festival verbundenen Aufgaben und leistete sich manch organisatorische Panne. Dergleichen freut selbstverständlich den hämenden Erbfeind Braunschweig, der prompt für die Woche vom 9. bis 14. November seinerseits ein Filmfestival angemeldet hat.
Wer da gehofft hatte, die Eröffnung des neuen Einkaufszentrums „Kamp-Promenade“ würde der allgemeinen Niedergeschlagenheit ein Ende bereiten, sah sich getäuscht. Auch wenn sich die schon zitierten Osnabrücker Nachrichten hier redlich mühten und das Bauwerk in wortgetreu übernommenem PR-Argot als bereicherndes „Quartier“ feierten, wird hinter vorgehaltener Hand doch eingestanden, dass die Freude an architektonischen Kulturleistungen mit der düpierenden Nachricht aus Hannover abgestorben ist. Kastenförmig steht der hoch geschlossene Klotz in der Innenstadt, abgeschottet nach allen Seiten – Ausdruck einer neuen Bunkermentalität der vor Jahresfrist noch so aufgeschlossenen Hansestadt?
Zu verdanken ist die Misere Landesvater Christian Wulff und seinen Spießgesellen. An ihnen wäre es jetzt, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen. Denn, so wird gemunkelt, hinter geschlossenen Türen soll schon von Sezession gesprochen worden sein und davon, sich dem unmittelbar ans Stadtgebiet angrenzenden Nordrhein-Westfalen anzuschließen. Die Düsseldorfer Landesväter wüssten eine Pretiose wie das Osnabrücker Land zweifellos zu schätzen. In Osnabrück mag niemand mehr ausschließen, dass die Deutschlandkarte bald neu geschrieben werden muss. CASPAR WIEDENBROCK