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Archiv-Artikel

Die Macht der Pixel

Das digitale Bild ist nicht nur Ergebnis eines am Rechner prozessierten Codes, sondern es bedarf wie der Text einer kritischen Lektüre: Arbeiten des Digitalkünstlers Andreas Müller-Pohle in Braunschweig

von RONALD BERG

Zwei Jahre nachdem „Sojourner“ 1997 bei seinen Fahrten über den roten Planeten Live-Bilder ins Internet funkte, unternahm Andreas Müller-Pohle seine Mission nach Marsdorf. Mit seinem, dem Sojourner nachemfundenen Mars-Mobil gelangen ihm Bilder, die denen der Nasa in etwa gleichkamen. Viel mehr als Geröll, Sand und bizarre tektonische Platten war auf den von lauter Funkstörungen verschlechterten Digitalbildern kaum zu sehen. Die unbewohnte Oberfläche von Marsdorf wird nun im Museum für Fotografie in Braunschweig in einer Retrospektive des Digitalkünstlers und Herausgeber der Zeitschrift European Photography gezeigt.

Irritierend bei Müller-Pohles Serie „Sojourner II“ ist aber nur ein einziges Bild. Es zeigt, dass Marsdorf – in der Nähe von Dresden gelegen – offenbar ein genauso durchschnittliches Kaff ist, wie irgendein anderer Standort der ehemaligen Sowjettruppen. Nach deren Abzug blieb eine Wüstenei zurück, leblos wie der Mars. Dabei geht es Müller-Pohle weniger um die schlimmen ökologischen Folgen von Militärbrachen als um den Code der Bilder. Wenn die digital gefunkten Bilder, die er aus Marsdorf mitbrachte, so aussehen wie die der „Pathfinder“-Mission der Nasa, dann könnte ebenso gut gelten, dass der Mars auf der Erde stattgefunden haben könnte.

Kein Wunder, dass solche Theorien im Internet zu finden sind. Letztlich ist überhaupt nicht auszumachen, wo die Bilder entstanden sind. Mehr noch: Da die Nasa-Bilder – anders als die von den Mondastronauten mit herkömmlicher Fotokamera aufgenommenen – nicht analog, sondern digital entstanden, sind die Funkstörungen, die auf dem langen Weg vom Mars zur Erde die Aufnahmen mit Doppelbildern und zerhackten Pixel durchziehen, das letzte Siegel für die Authentizität der ganzen Unternehmung. Wie Müller-Pohle zeigt, ist diese Authentizität ziemlich einfach herzustellen.

Alle Arbeiten in der Braunschweiger Ausstellung handeln vom Code der digitalen Bilder. Bekanntlich ist das Bildhafte daran im Grunde nur ein Interface, damit wir sehen, was die Maschine rechnet. Der Binärcode bleibt dabei unsichtbar. Dem abzuhelfen hat Müller-Pohle schon 1996 den Code einfach in alphanumerische Zeichen übersetzt. Das Bild, es handelt sich pikanterweise um das erste von Niépce 1826 aufgenommene Foto überhaupt, kommt nun nach dem Scannen nicht in den bekannten Bildpunkten daher, sondern in unzähligen Schichten eines übereinander gedruckten Zahl- und Buchstabengewirrs. Dieses im quadratischen Format an die Wand gehängte Motiv ist weder lesbar noch als Bild erkennbar, sondern verweist auf den universal „komputierbaren“ Code, wie Müller-Pohle das nennt.

Die Nabelschnur aus Licht zwischen dem Objekten und deren fotografierten Abbild ist im digitalen Aufnahmeverfahren endgültig zerschnitten. Das hat weitreichende Konsequenzen – ästhetische, technologische und politische. Es sind diese drei Felder, mit denen sich Müller-Pohle seit Mitte der Neunziger befasst. Der Code wird sichtbar, indem das Bild-Interface wechselt: Etwa wenn Müller-Pohle Geninformationen in farbiger Blindenschrift ausdruckt, die weder Blinde lesen noch Normal-Sehende verstehen können. Oder wenn die sinnlose alphanumerische Visualisierung von digital aufgenommenen Porträts in chinesische Bildzeichen übersetzt plötzlich Sinn (oder Unsinn?) macht, der in irgendeiner untergründigen Beziehung zu den asiatischen Gesichtern der Porträtierten zu stehen scheint.

Ein technisch eher einfaches, aber politisch brisantes Beispiel für den Wechsel des Codes ist die achtteilige Serie „Atomic Laughter“. Müller-Pohle hat hier Bilder gefunden, die den US-Präsidenten Harry Truman am 6. August 1945 zeigen, kurz bevor er im Radio die Bombardierung Hiroshimas bekannt gab. Der Präsident, der gerade ansteht, den Tod von tausenden von Menschen als „größtes wissenschaftliches Spiel in der Geschichte“ zu verharmlosen, lacht. Müller-Pohles in elf blasse und etwas unscharfe Einzelbilder aufgelöste Dokumentation der Truman-Rede könnte wiederum eine Fälschung sein, denn keines dieser digitalen Bilder lässt sich auf einen wahren Ursprung zurückführen, sondern immer nur bis auf den Binärcode als eine Art Matrix zur Generierung des Bildes. Aber auch wenn im digitalen Zeitalter die menschliche Quelle und nicht mehr die Technik für die Glaubwürdigkeit einstehen muss, so liegt darin durchaus auch eine aufklärerische Botschaft: Das digitale Bild – das zeigt Müller-Pohle – ist nicht nur Ergebnis eines unbildhaft-linearen Codes. Es bedarf ebenso wie der Text einer kritischen Lektüre.

Braunschweig, Museum für Photographie, bis 23. November