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Archiv-Artikel

Argumentationskette mit achtarmiger Gottheit

Die Stimmen jagen die Körper auf und nieder: Der junge Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui präsentierte sein Stück „Tempus fugit“ im Berliner HAU-Theater

Man müsste den Begriff für ihn noch einmal erfinden können: Weltmusik. Oder vielleicht eher Mittelmeermusik – Musik aus einer Zeit, als Segelschiffe mit den Gewürzen auch die Lieder Siziliens und Korsikas und die Tänze der Hafenstädte verbreiteten. Denn was der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui, Sohn marokkanisch-flämischer Eltern, mit den Tänzern des flämischen Kollektivs Les Balletts C. de la B. und wechselnden Musikern seit vier Jahren auf die Bühnen bringt, ist ebenso sehr eine Reise durch die Zeit wie durch den Raum unterschiedlicher Kulturen. Stimmen und Schritte: Wie er den Übergang von dem einen Element in ein anderes moduliert, bis man sich plötzlich in einem emotional geladenen arabischen Tango, in einem traurigen orientalischen Blues oder in einem witzigen afrikanisch-irischen Stepptanz wiederzufinden glaubt, knüpft an akustische Welten lange vor ihrem elektronischen Zusammenfluss an. Auch wenn jeder Tänzer ein Mikro trägt und das Mischpult zwischen den Percussions und historischen Instrumenten auf der Bühne steht.

Tanztheater und Konzert gehen bei dem 1976 in Antwerpen geborenen Choreografen eine intensive Verbindung ein; fast alle seine Tänzer haben besondere Gesangstechniken gelernt. Tatsächlich galt die erste Auszeichnung, die Sidi Larbi Cherkaoui bekam, einem Musical nach Musik von Jacques Brel, für das er 1999 die Choreografie entworfen hatte. Für seine eigenen Stücke „Rien de rien“ und „Foi“ wurde er 2002 in Monte Carlo und dieses Jahr mit dem Movimentos-Preis der Stadt Wolfsburg ausgezeichnet.

In seinem jüngsten Stück, „Tempus Fugit“, spielt er in einer kleinen Szene eine Art Dorfschullehrer, mit umgelegtem Schal und engem Jackett, der sein Ensemble wie einen Chor dirigiert und immer wieder unterbricht, um eine französisch korrekte Aussprache einzelner Laute zu fordern. Denn das Französisch der zehn Tänzer zerfällt sicher in zehn Dialekte unterschiedlicher Herkunft, asiatisch, afrikanisch, arabisch oder flämisch gefärbt. Sie reden ihn aber in jeder Diskussion über die Aussprache in Grund und Boden mit einem lautmalerischen Temperament, das jedes wörtliche Verständnis überflüssig macht und die Aufführung immer wieder sehr unterhaltsam aufmischt. Zu dem Lied, um das es geht, „Le temps des cerises“, haben sie sich zuvor schon wie die Puppen einer Spieluhr gedreht, während Laub und Papierschnipsel vom Bühnenhimmel regneten. Wie niedliche Allegorien der Jahreszeiten sahen sie da aus. Und im nächsten Moment stellten sie explosiv die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus, jeder geprägt von einem anderen Zeitgefühl und einer anderen Geschwindigkeit der kulturellen Entwicklung.

Zeit wird in „Tempus fugit“ auch thematisch als ein unterschiedliches Zeitmaß in den Körpern, ein Abweichen in der Art zu reden und zu erzählen, ein Nebeneinander unterschiedlicher Rhetoriken und Dramaturgien. Das lässt das Stück selbst etwas zerfließen in eine Kette von Szenen, von denen man zwar immer sieht und hört, wie sich das Material weiter und weiter transformiert, aber dabei auch ziellos mäandert und ausfranst. Viele Passagen sind witzig und ironisch, das Selbstdarstellungspotenzial und die Abgrenzungsrituale der verschiedenen Kulturen immer gleich unterlaufend. Die ständige Lust an der Erfindung neuer Hybriden ist zwar manchmal etwas forciert, aber auch stets verblüffend. Zum Beispiel, wenn eine sehr amerikanisch klingende Argumentationskette – „I mean, somebody has to be the victim“ –, die einen verdammt affirmativen Blick auf das Oben und Unten der Gesellschaft wirft, von der blitzschnellen Gestensprache einer achtarmigen buddhistischen Gottheit begleitet wird.

„Tempus fugit“ (lateinisch für: die Zeit flieht) hatte dieses Jahr auf dem Festival von Avignon seine Premiere und war seitdem in vielen Städten zu Gast, auch bei Pina Bausch und zuletzt im HAU in Berlin. Schon dass er einen lateinischen Titel wählt, verweist auf Sidi Larbi Cherkaouis Liebe zur Musik des Mittelalters. Sie markiert für ihn nicht nur eine historische Epoche, sondern öffnet den Weg, Stimme und Körper in einer ungewohnten Art und Weise zusammenzubringen. Die Stimmen und ihre Modulation transportieren Geschichten, die man wörtlich nicht versteht und doch begreift; sie jagen die Körper auf und nieder, dirigieren sie durch Hochzeits- und Sterbeszenen, unterstützen sie beim Weg in die Höhe, einen Wald von Stangen hinauf, oder lassen sie hüpfen und zappeln wie die Frösche.

Die Ebenen, auf denen „Tempus fugit“ von der Zeit erzählt, sind unterschiedlich: Manche Sequenzen sind biografisch angelegt, manche evolutionshistorisch. Es tauchen Bilder auf, die an die Symbole von Spielkarten denken lassen und das Rad des Schicksals; dann wieder geht eine Textsäule, gesprochen und dreisprachig zu lesen, auf den Zuschauer nieder, die alle Zuordnungsmuster und Ausgrenzungsmerkmale einer multikulturellen Gegenwart aneinander kettet. Aus dieser Gegenwart stammt eindeutig auch die Perspektive, die das Interesse des Choreografen am Durchqueren der unterschiedlichen Kultur- und Zeiträume prägt.

KATRIN BETTINA MÜLLER