: Der Thronanwärter
Justin Timberlake ist gelungen, was vor ihm nur Robbie Williams schaffte: die Emanzipation von seiner Boygroup-Karriere. Jetzt schickt er sich an, Michael Jackson als König des Pop zu beerben
von TOBIAS RAPP
Eigentlich stürzt niemand tiefer als das Teen-Idol. Eines Tages ist der Spaß vorbei. Die Wonne, ein singender und springender Hohlkopf zu sein, schmeckt nur noch schal. Die Fans fangen an, sich zu schämen, einen einst gemocht zu haben. Der Charakter, den man sich einmal zugelegt hat, blickt einen aus dem Spiegel an, und man erkennt sich nicht wieder. Die Charaktermaske fühlt sich an, als sei sie angewachsen. Nein, denkt sich das Teen-Idol, die Welt soll wissen, dass ich mehr kann als nur an den Fäden der Fremdbestimmung zappeln, ich muss nur meinem Management die Gefolgschaft aufkündigen und mein eigenes Ding machen. Dann werde ich auch den Jubel wieder hören. Doch das will niemand mehr wissen. Der Vorhang fällt, der Nachwuchs macht sich bereit. Dies ist die Regel. Sie kennt zwei Ausnahmen. Robbie Williams und Justin Timberlake.
Aber was für einen beschwerlichen Weg musste Robbie Williams zurücklegen, um den Geruch seiner Boyband-Vergangenheit vergessen zu machen (und die wunderbaren Take That waren ja nun wahrlich keine Gruppe, bei der man sich für die Mitgliedschaft hätte schämen müssen). Robbie musste sich monatelang danebenbenehmen, um bei Take That gefeuert zu werden, musste mehr Flaschen leeren, als der Zimmerservice hätte zählen können, um das glänzende Boygroup-Image zersplittern zu lassen. In einem herkulischen Akt musste er sich innerhalb weniger Monate eine Boygroup-unabhängige Vergangenheit erfeiern, um seine Boygroup-Vergangenheit vergessen zu machen. Er musste den überlebensgroßen Rockstar mimen, um der zu werden, als der er heute das schaustellende Gewerbe überstrahlt: ein generationenübergreifend geliebter, global erfolgreicher Entertainer.
Justin Timberlake dagegen scheint all das zuzufliegen. Genau ein Album reicht ihm, um aus dem süßen Blonden, der zusammen mit dem Älteren, dem Flippigen, dem Frauenhelden und dem mit dem Bart das Quintett ’N Sync bildete, zu Justin Timberlake zu werden, dem einzigen ernst zu nehmenden Anwärter auf die schon seit langem überfällige Michael-Jackson-Nachfolge auf dem Thron des King of Pop. Wie macht man das?
Tausendmal ist die Geschichte von Justin Timberlake schon erzählt worden, für die tausendunderste Auflage dieses Märchens mag Folgendes genügen: Timberlake ist bei seiner Mutter aufgewachsen, die bis heute seine Managerin ist und für die er sich auch die riesige Guardian-Angel-Tätowierung auf seinen Rücken hat stechen lassen. Von Kindesbeinen an wurde Justin von den Plänen angetrieben, die seine Mutter mit ihm hatte – ihr Sohn sollte Popstar werden.
Nun gibt es in den USA seit Jahren eine ganze Industrie, die sich den Bedürfnissen ehrgeiziger Eltern widmet, die ihre Kinder in das Showgeschäft schieben wollen. Diese Industrie umfasst beileibe nicht nur Tanzschulen, Benimm- und Gesangslehrer. Ein ganzes Universum von Institutionen baut auf dem Verlangen auf, die eigenen Kinder im Rampenlicht sehen zu können: Zeitschriften, Talentshows, Fernsehsendungen.
All diese Stationen durchlief auch Justin Timberlake, mit dem Höhepunkt regelmäßiger Auftritte in der Mickey Mouse Show. Dort hatte nicht nur Christina Aguilera ihren ersten großen Auftritt, dort lernte Justin auch Britney Spears kennen und JC Chasez, mit dem zusammen er dann ’N Sync begründete, jene Boygroup, die über den Umweg Europa – tatsächlich war die deutsche BMG ihre erste Plattenfirma – zu einer der erfolgreichsten Gruppen der letzten Jahre wurde, jene Gruppe, der Justin nun zu entkommen sucht.
Der erste Schritt eines solchen Emanzipationsprozesses ist die Individualisierung, das Andeuten eines Charakters hinter der Maske, die einem das gleichberechtigte Singen und Springen in einem Boygroup-Quintett auferlegt. Im Falle Justin Timberlakes ergab sich dies quasi organisch aus seiner Beziehung zu Britney Spears. Wer mit der Prinzessin des Bubblegum-Pops liiert ist, wird automatisch zum Prinzen.
Natürlich barg diese Beziehung einige symbolische Schwierigkeiten. Britneys Emanzipationsdrama vollzog sich anders, sie war auf ihren ersten beiden Alben das Mädchen, um erst auf dem dritten mit „Not a Girl, Not Yet a Woman und „Slave 4 U Love in die eindeutig sexualisierte Phase einzutreten, die es erlaubt hätte, eine vollgültige Beziehung zu führen. Zumal Britney und ’N Sync bei derselben Plattenfirma unter Vertrag waren: betriebswirtschaftlich gedacht, hätte der Verlust von Britneys Jungfernschaft Zomba mehr geschadet, als mit ’N Sync hätte reingeholt werden können.
Die Spätfolgen dieser Konstruktion sind tatsächlich auch heute noch das Einzige, was der universellen Akzeptanz von Justin Timberlake als König des Pop entgegensteht. Er hat sich medial nicht als Mann beweisen können, wie es sein Emanzipationsdrama verlangt hätte. Dass er deshalb bis heute von meist heterosexuellen und männlichen Rockkritikern verspottet wird, sagt allerdings mehr über deren Vorstellungen von Geschlechterbildern aus als über das, was real in Timberlakes Schlafzimmer passiert ist. Der Umstand, dass ihm eine Affäre mit Janet Jackson nachgesagt wird und dass er nun mit der Schauspielerin Cameron Diaz zusammen ist, beides Frauen, die um einige Jahre älter sind als er, dürfte diese Ressentiments jedoch auf Dauer zerstreuen.
Individualisierung allein reicht auf die Dauer nicht aus, wie man am tragischen Beispiel von Timberlakes Bandkollegen Lance Bass beobachten konnte, der sich sogar einer Herzoperation unterzog, um mit einem russischen Shuttle ins All fliegen zu dürfen, nur um dann die fälligen Millionen nicht zahlen zu können und schmählich aus der Raumfahrerstadt in Kasachstan verbannt zu werden. Seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört. Wahrscheinlich sitzt er in den abgedunkelten Räumen einer Villa und schluckt Prozac.
Es braucht noch ein Moment der Überraschung, eine kreative Übersprungshandlung, die ohne Umwege den artistischen Gaben des ehemaligen Teen-Idols zurechenbar sein muss. Kurz: Der junge Mann muss sich als Künstler porträtieren lassen können.
Und hier hat Justin Timberlake außergewöhnliches Geschick bewiesen. Er machte nämlich genau das, was vor ihm – von George Michael einmal abgesehen – noch niemandem gelungen ist. Er bewegte sich ausgerechnet in das durch Anerkennungskämpfe am stärksten zerklüftete Genre des Pop: in die schwarze Musik. Nirgendwo sonst ist es so schwierig, als weißer Künstler anerkannt zu werden. Doch Timberlake lehnte das Angebot des Boygroup-Produzenten Max Martin ab, der ihm ein Album auf den Leib schneidern wollte, und begab sich für „Justified“ stattdessen mit dem Missy-Elliott-Produzenten Timbaland und den Neptunes ins Studio.
Tatsächlich ist „Justified“ ein Album, wie es nur alle Jubeljahre erscheint. Es ist funky in jedem Sinne: gewagt, fett, repetetiv, überdreht, sinnlich. Eine Platte, wie Michael Jackson sie heute machen würde, wäre er Anfang zwanzig und bereit, die Welt zu erobern. Dass er an allen Stücken mitgeschrieben hat, gereicht Timberlake nicht nur zur Ehre, es bestätigt die Glaubwürdigkeit, die es braucht, in Jacksons Fußstapfen treten zu können. Dass Pharrell Williams von den Neptunes über ihn sagt, er hätte in einer schwarzen Kirche aufgewachsen sein können, gibt diesem Crossover den nötigen dunklen Farbtupfer.
So wird Justin Timberlake bei seinen Deutschlandkonzerten wohl ein extrem breit gestreutes Publikum anziehen. HipHopper, die ihn mögen, weil er von Rappern respektiert wird, Hausfrauen, die ihn mögen, weil er sagt, seine Mutter sei die einzige Frau in seinem Leben, Heteros, die ihn mögen, weil er Jude Law in der Rolle des einzigen Mannes ersetzt hat, mit dem sie ins Bett gehen würden, und Schwule, die ihn sowieso mögen. Diejenigen, die nur eine Platte im Jahr kaufen, werden genauso kommen, wie jene, die mehr Geld für Platten ausgeben, als sie haben. Jedes popkulturelle Fürstentum wird seine Abgesandten schicken. Es wird sich anfühlen, als seien die Generalstände einberufen worden, um die Krönung des neuen Königs zu vollziehen.