: Auf die Haltung kommt es an
Der Nacken ist verspannt, der Rücken schmerzt – viele Menschen plagen solche Beschwerden. Oft sind falsche Körperhaltungen schuld daran. Rolfing macht Belastungen bewusst und hilft, sie auszugleichen. Dazu lockern Rolfer das tiefe Bindegewebe
Während der ersten Europäischen Rolfing-Woche laden Berliner Rolfer und Rolferinnen vom 19. bis 26. April 2009 zu kostenlosen Workshops, Filmen und Vorträgen ein. Eine Liste aller Veranstaltungen finden Interessierte auf der Internetseite der Europäischen Rolfing-Gesellschaft unter:www.rolfing.org.
VON MARTINA JANNING
Auf den ersten Blick ähnelt es einer Fußmassage, aber es ist mehr: Robert Gantke presst seine Faust gegen die Fußsohle seines Klienten und bewegt seine Handknöchel nach und nach zur Ferse. So versucht er mögliche Ursachen für Beschwerden zu tasten. Denn „ein Ungleichgewicht in der Körperhaltung kann sich zum Beispiel in den Füßen manifestieren“, erklärt der Therapeut. Indem Gantke die Füße behandelt, bringt er die gesamte Struktur des Körpers mehr ins Gleichgewicht. Der Effekt: Der Mensch kann seinen Kopf besser und lockerer tragen und Nackenschmerzen lösen sich in Wohlgefallen auf.
Gantke praktiziert Rolfing. Das ist eine manuelle Therapie, die Elemente aus dem Yoga und der Osteopathie vereint. Namensgeberin der Methode ist die US-Amerikanerin Ida Rolf. Die Biochemikerin entwickelte die sogenannte Strukturelle Integration – kurz Rolfing genannt – Mitte des vorigen Jahrhunderts. Zwar kam die Körperbehandlung schon in den 1980er-Jahren aus den USA nach Deutschland und es eröffneten erste Praxen. Bis heute ist Rolfing jedoch ein Geheimtipp geblieben.
Viele Menschen halten Rolfing für eine Form von Massage. Damit hat die Technik jedoch wenig zu tun. Es gibt keinen Masseur, der den Körper durchknetet, um die Durchblutung zu fördern und verspannte Muskeln zu lockern. Auch gehe es beim Rolfing nicht nur ums Entspannen, erklärt Hubert Ritter, Rolfer aus Berlin. „Ziel ist es, die Statik des Körpers so zu verändern, dass der Körper besser auf- und ausgerichtet ist.“
Anders als ein Orthopäde, der sein Augenmerk vor allem auf die Glieder richtet, die Ärger machen, hat ein Rolfer den ganzen Körper im Blick. Er begutachtet, wie die Schwerkraft auf die Knochen, Muskeln und Sehnen seines Klienten wirkt und welche Körperstellen besonders beansprucht sind. Außerdem schaut der Rolfer, wie sein Klient sich im Alltag bewegt, und versucht Muster zu entdecken, die bei der Arbeit, am Schreibtisch, vor dem Bildschirm und im Alltag oder auch beim Sport typisch sind. Denn unnatürliche Haltungen sind eine Hauptursache für orthopädische Beschwerden: Wir bücken uns falsch, sitzen mit krummen Rücken, ziehen bei Stress die Schultern hoch – die Liste der Haltungsfehler ließe sich fortsetzen.
Das Besondere am Rolfing: Das Bindegewebe wird bearbeitet. Wer sich belastende Bewegungen angewöhnt hat oder jahrelang eine falsche Körperhaltung einnimmt, setzt damit nicht nur seiner Muskulatur zu, sondern auch den sogenannten Faszien. Das sind straffe Häute aus Bindegewebe, die unsere Muskeln, Knochen und Organe ummanteln wie ein Darm die Wurst. Die Faszien durchziehen den Organismus wie ein dreidimensionales Netz und helfen mit, ihm seine Struktur zu geben. Sie verleihen dem Körper die nötige Spannung, die ein Mensch zum Stehen, Gehen oder Sitzen braucht. Falsche Körperhaltungen zerstören die Faszien, die wie ein Gitternetz aufgebaut sind. Die Folge: Sie verkleben und verkürzen sich. Durch gezielten Druck mit den Fingerspitzen, der Hand oder einem Ellbogen lösen Rolfer verklebte Faszien, machen sie geschmeidiger und länger. So können Muskeln und Gelenke freier arbeiten. „Verkürzte Stellen verlängern sich wieder und Verspannungen nehmen ab“, sagt Ritter.
Dass die Faszien sich tatsächlich verkürzen können, hat eine Untersuchung der Universität Ulm belegt. Der Rolfer Robert Schleip, der die Studie gemacht hat, vermutet, dass der Körper neben den Muskeln über ein zweites System zum Regulieren der Spannung verfügt, das in den muskulären Faszien liegt. Diese Anspannung des Bindegewebes, so glaubt Schleip, kann für chronische Rückenbeschwerden oder einen verspannten Nacken verantwortlich sein. Rolfing soll diesen Druck lösen.
Damit der Effekt nachhaltig ist, setzen Rolfer zehn Sitzungen an. Die einzelnen Stunden bauen aufeinander auf. Dabei folgt der Therapeut einem Grundgerüst, das er den persönlichen Bedürfnissen jedes Klienten anpasst. Zunächst beobachtet ein Rolfer, wie sein Kunde sitzt, steht und geht und wo dessen Körper zu fest oder zu weich erscheint. Wichtig: Befindet sich der Körper im Einklang mit der Schwerkraft oder staucht sie ihn zusammen? Dann tastet der Therapeut bevorzugt diejenigen Faszien ab, die die Muskeln umhüllen und für deren Beweglichkeit wichtig sind. Diese Analyse des Körperbaus vergleichen Rolfer gerne mit der Arbeit eines Bildhauers, der eine Skulptur formen will.
Dann geht der Rolfer an die Arbeit: In der ersten Sitzung soll der Atem zum Beispiel mehr Raum bekommen und sich die Verbindung zwischen Brustkorb und Becken lockern, damit der Körper sich leichter aufrichten kann. In der zweiten Sitzung geht es meistens darum, die Statik von Beinen und Füßen zu verbessern und sie mit dem Rumpf auszubalancieren. Thema der dritten Sitzung ist die Beweglichkeit und das Aufrichten der beiden Körperseiten. In den Sitzungen vier bis sieben behandelt der Rolfer eingehend die tief liegenden Faszien. In den letzten drei Sitzungen versucht der Therapeut schließlich, dem Körper Stabilität zu geben.
„Bei einer typischen Rolfing-Behandlung liegt der Klient entspannt auf einer Liege“, sagt Ritter. Jede Sitzung dauert 60 Minuten. „50 Minuten davon arbeitet der Rolfer mit seinen Händen am Klienten, die restlichen zehn Minuten vermittelt er neue Haltungs- und Bewegungsmuster und gibt Tipps für den Alltag.“
Zwischen den einzelnen Sitzungen sollten jeweils etwa zwei Wochen liegen. „Damit sich die Veränderungen im Körper setzen können und der Klient sie in seinen Bewegungsablauf integrieren kann“, erklärt Ritter. Eine Auffrischung des Rolfings sei erst nach sechs bis zwölf Monaten sinnvoll, urteilt der Therapeut. „Oft reicht schon eine Einzelsitzung, um sich zu erinnern“, sagt er. Die Kosten pro Sitzungen liegen bei rund 90 Euro. Gesetzliche Krankenkassen bezahlen Rolfing nicht, weil es keine wissenschaftlichen Studien gibt, die seinen Nutzen belegen. Manche private Krankenversicherungen erstatten die Kosten.
Vor allem zwei Gruppen von Menschen kämen zu ihm, sagt Rolfer Ritter. Die einen hätten Probleme mit Rücken, Nacken oder Schultern und oft schon viele Sachen ausprobiert, um ihre Beschwerden zu lindern. Die anderen seien unzufrieden mit ihrer Haltung und wollten Malaisen vorbeugen. Die Therapie ist schon für Kinder geeignet – sie bekommen aber kürzere Behandlungen. Kein Rolfing dürfen Menschen mit akuten entzündlichen Erkrankungen oder bösartigen Tumoren machen. Im letzten Fall besteht die Gefahr, dass die manuelle Therapie Metastasen ausbreitet. Für Schwangere ist Rolfing in den ersten drei Monaten tabu, danach kann es ihnen Erleichterung bringen. Ritter: „Nach einer Schwangerschaft ist Rolfing sogar sehr gut, weil der Körper ein neues Gleichgewicht finden muss.“
Buchtipp: Hans-Georg Becklinghaus: „Rolfing-Movement. Die Praxis für den Alltag“. Lebenshaus Verlag 2007, 288 Seiten, 39 €