Spur nach nirgendwo

Weltweit werden Menschen verschleppt und verschwinden für immer – im Auftrag des Staates

VON FELIX LEE

Sie heißen „Madres de Plaza de Mayo“, „Mütter von Tiananmen“ oder „Samstagsmütter aus Istanbul“ – und alle haben sie dasselbe Anliegen: Sie wollen wissen, was mit ihren Söhnen, Töchtern und Enkelkindern geschehen ist, die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden sind. Ob sie gefoltert, getötet, in andere Länder verschleppt wurden oder alles zusammen – überall auf der Welt suchen Eltern, Geschwister und Kinder verzweifelt nach ihren Angehörigen.

Das gezielte „Verschwindenlassen“ von Menschen sei „eines der schlimmsten Verbrechen, weil die Angehörigen bewusst im Unklaren gelassen werden“, sagt Christine Klissenbauer von Pax Christi. Zusammen mit amnesty international (ai), dem Diakonischen Werk und dem Republikanischen Anwälteverein (RAV), die sich im „Bündnis gegen das Verschwindenlassen“ zusammengeschlossen haben, hat sie an diesem Wochenende zur internationalen Tagung „Verschwindenlassen – eine Herausforderung für den Rechtsstaat“ nach Berlin geladen. Mit dabei: Angehörige und Vertreter von Verschwundenenorganisationen aus Lateinamerika, Afrika und Osteuropa, die sich seit Jahren gegen das so genannte „Verschwindenlassen“ und die damit verbundene Straflosigkeit einsetzen.

Das Muster ist in den meisten Ländern ähnlich: Von staatlichen Organen angeordnet, wird den Angehörigen die Haft weder bestätigt noch sonst irgendeine Information über Schicksal und Verbleib des Opfers mitgeteilt. Behörden blockieren Recherchen, und Festnahmen werden abgestritten – auch Jahre nach einem Regimewechsel. Zu den Opfern gehören politische Oppositionelle, Straßenkinder und andere „Unerwünschte“.

„Man lässt Menschen nie wahllos verschwinden“, sagt Miguel Jugo, Anwalt beim „Asociación pro Derechos Humanos“ (Aprodeh) aus Peru. Diese Praxis erfordere ein hohes Maß an Organisation und die Beteiligung vieler offizieller Stellen. Wenn Opfer aus Helikoptern ins Meer gestoßen werden, muss es sich um geplante und mit Überlegung ausgeführte Taten von Regierungen handeln, so Jugo.

Verschwindenlassen ist eine Menschenrechtsverletzung, die nicht nur das Opfer selbst trifft, sondern auch den Angehörigen großes Leid zufügt. Die oft jahrelange Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen sei nicht weniger quälend als Folter, sagt Loyola Guzmán aus Bolivien. Oft geraten die Zurückgebliebenen auch wirtschaftlich ins Abseits. Der Verlust des Ehemannes oder Sohnes als Ernährer der Familie führe meist zu bitterer Armut. Guzmán erinnerte an das ungeklärte Schicksal von mehr als 100.000 Menschen in Lateinamerika. Ähnlich alarmierend auch die Situation in asiatischen Ländern wie den Philippinen, China, Sri Lanka und in der indischen Region Kaschmir, sagte Aileen Bacalso von den Philippinen: „Vor allem der Kampf gegen die Straflosigkeit der Verantwortlichen ist ein langer Weg.“

Eine Forderung der Menschenrechtler ist daher das „Verschwindenlassen“ als Straftatbestand weltweit verbindlich einzuführen. Bisher hat nicht ein afrikanischer Staat dieses Verbrechen in sein Strafgesetzbuch aufgenommen, schildert Abdelslem Omar Lahcen, vom Netzwerk „Families of disappeared Africans“ in Westsahara. Andere Länder, die inzwischen demokratisch regiert werden, wie Chile oder Argentinien, sind zwar sehr wohl in der Lage, die Verantwortlichen für diese Taten zur Rechenschaft zu ziehen, machen dies aber aus politischen Erwägungen nicht, verhängen gar regelmäßig Amnestien gegenüber bereits Verurteilten des Verschwindenlassens. Zwar existieren mit der Interamerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen und auch mit dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs rechtliche Grundlagen für eine Strafverfolgung. Wie der spanische Strafbefehl gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet zeigte, sind sie bisher juristisch aber kaum durchsetzbar gewesen.

Auch eine vom Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck angestrebte Strafverfolgung gegen führende Militärs in Argentinien, die auch deutsche Staatsbürger verschleppten, nahm das Landgericht Nürnberg zwar auf, stellte die Ermittlungen nach sechs Jahren aber ein.

In einer abschließend verfassten Resolution forderten die Tagungsteilnehmer ein neues Rechtsinstrument, das international verbindlich ist. Darin heißt es, dass systematische Fälle von Verschwindenlassen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich verfolgt werden. Überlebende Opfer und Angehörige sollen ein Recht auf Wahrheit und Entschädigung erhalten. Zudem fordern die Beteiligten, dass im Menschenrechtssystem der UN ein spezielles Organ geschaffen wird, das sofort Auskünfte über den Verbleib der Betroffenen einfordern kann.

Andreas Selmeci vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wies darauf hin, dass im Entwurf einer entsprechenden UN-Konvention diese Anforderungen bereits formuliert sind. Und tatsächlich laufen derzeit Verhandlungen für ein internationales Abkommen bei der UN in Genf, die aber nur schleppend voran kommen. Nach Einschätzung von Beobachtern wird es der zuständigen UN-Arbeitsgruppe „Für Erzwungenes oder Unfreiwilliges Verschwinden“ (WGEID) daher kaum möglich sein, ihre Arbeit plangemäß bis März kommenden Jahres zu beenden. Behindert werden die Verhandlungen vor allem von den Delegierten aus Russland, China und Äthiopien. Andreas Selmeci kritisierte, dass sich auch die rot-grüne Bundesregierung einer solchen UN-Konvention gegenüber bisher eher zurückhaltend verhalten habe.