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Archiv-Artikel

Durchhalten. Ein deutscher Mythos

von RALPH BOLLMANN

Ging je ein SPD-Kanzler derart gebeutelt auf einen Parteitag der Genossen wie heute Gerhard Schröder nach Bochum? Die Demoskopen taxieren die Partei niedriger als in den düstersten Perioden der Kohl-Ära, bei den jüngsten Wahlen in Bayern oder Brandenburg erreichten die Landesverbände historische Tiefstände. Aber führende Genossen geben sich unverdrossen. Je schlechter die Umfragewerte, umso mehr fühlen sie sich in ihrer historischen Mission bestärkt. Für sie zeugt der Aufschrei im Volk nicht von fehlerhafter Politik, sondern von der Größe ihrer historischen Mission. Schröder hofft darauf, dass spätestens im Frühjahr ein Wunder geschieht. Wenn die hitzigen Debatten um die Reformgesetze vergessen sind, ein zarter Wirtschaftsaufschwung spürbar wird, die Frühlingssonne das Gemüt erhellt – spätestens dann soll auch des Kanzlers Antlitz wieder in freundlicherem Licht erscheinen. Bis dahin geht es nur um eines: ums Durchhalten. Mit dem Eifer, den nur Renegaten aufbringen können, propagiert die Generation der Ex-Jusos diese soldatische Tugend aus dem alten Preußen. Die taz zeigt, von welchen historischen Vorbildern der Kanzler dabei lernen kann – und von welchen nicht.

1. Friedrich der Große. Für Durchhalteparolen war der preußische Monarch bis 1945 der Bezugspunkt schlechthin. Er gab den Siebenjährigen Krieg nicht verloren, obwohl die militärische Lage schon nach zwei Jahren völlig aussichtslos war. Aber dann geschah jenes Wunder, das den Mythos vom „Mirakel des Hauses Brandenburg“ begründete: Die Petersburger Zarin starb, die Konstellation der Mächte änderte sich, und am Ende schloss der König 1763 Frieden. Noch in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts gelang es der militärischen Führung, unter Verweis auf dieses Vorbild den Glauben an den Sieg aufrechtzuerhalten. Doch in Wahrheit war Friedrichs „Durchhalten“ kein politisches Programm, sondern allein die Folge einer strategischen Notlage, in die er sich durch eine grandiose politische Fehleinschätzung hineinmanövriert hatte – ganz ähnlich wie Gerhard Schröder mit der sprunghaften Politik seiner ersten viereinhalb Regierungsjahre. Trotzdem, oder gerade deshalb: Vorbild für Schröder.

2. Karl August von Hardenberg. Es war Schröder selbst, der im vergangenen Sommer die historische Parallele zum Reformkanzler Karl August von Hardenberg bemühte: Just auf dem einstigen Schloss des preußischen Politikers versammelte er das rot-grüne Kabinett, um das Vorziehen der Steuerreform zu verkünden. Eine Petitesse, verglichen mit der Aufgabe, die Hardenberg einst bewältigte. Seit der Niederlage gegen Napoleon lag Preußen danieder. Auf nahezu allen Gebieten war der Reformdruck groß – vom reglementierten Arbeitsmarkt über das Bildungsdesaster bis zu einer Armee, die den Anforderungen der neuen Weltordnung nicht gewachsen war. Nur unter den Bedingungen der Krise konnte Hardenberg sein rigides Reformprogramm gegen den breiten Widerstand von den Zünften bis zum Adel durchsetzen. Anders als es die Legende will, war er mit seiner „Agenda 1810“ allerdings nur teilweise erfolgreich. Mit dem Sieg über Napoleon wich auch der Reformdruck, die Regierung balancierte weiter am Rande des Bankrotts. Hardenberg blieb trotzdem im Amt. Deshalb: Vorbild für Schröder.

3. Friedrich Wilhelm IV. Im Allgemeinen gilt der wankelmütige Monarch nicht gerade als Meister des Durchhaltens. In der Revolution von 1848 hat er es trotzdem geschafft. Zuerst mit ein paar beschwichtigenden Floskeln an die Aufständischen („Preußen geht fortan in Deutschland auf“), ganz ähnlich wie Schröder („Ausbildungsplatzabgabe“). Dann wartete er einfach ab, bis sich die Lage einigermaßen konsolidiert hatte. Als ihm die Frankfurter Nationalversammlung ein Jahr später die deutsche Kaiserkrone andiente, konnte er schon wieder gefahrlos eine brüske Ablehnung riskieren. Das „Hundehalsband“ mit dem „Ludergeruch der Revolution“ wollte er nicht haben. Sein Nachfolger Wilhelm II. realisierte die deutsche Einheit zwei Jahrzehnte später zu seinen Bedingungen. Vorbild für Schröder.

4. August Bebel. Nicht nur bei den konservativen Staatsmännern vergangener Tage, auch in der Geschichte der eigenen Partei kann sich Schröder einiges abschauen. Als Bismarck die junge Sozialdemokratie im Oktober 1878 per Gesetz verbieten ließ, schien die letzte Stunde schon gekommen. In düstersten Worten beschrieb August Bebel die Gemütsverfassung seiner Genossen. „In den Massen“, so Bebel rückblickend, „herrschte vielfach Niedergeschlagenheit und Tatenlosigkeit. Es bedurfte energischer Agitation, um die mutlos Gewordenen wieder aufzurichten.“ Aber, wie Gerhard Schröder in seiner Erklärung „125 Jahre Sozialistengesetz“ feststellte: „Die Zeit der Not wurde zur Zeit der Bewährung.“ Als das Gesetz 1890 aufgehoben wurde, war die SPD stärker denn je – ganz so, wie es sich Schröder spätestens für die Bundestagswahl 2006 erhofft. Vorbild für Schröder.

5. Heinrich Brüning. Der Vergleich mit dem Kanzler, dessen rigide Sparpolitik den Untergang der Weimarer Republik beschleunigte, wurde schon oft bemüht – auch von Oskar Lafontaine, der damit die Kanzlergattin zur Empörung trieb. Doch während Schröder auf den nächsten Wirtschaftsaufschwung hofft, wollte Brüning das Reich ganz bewusst kaputtsparen. Ziel der Aktion: Die Allierten sollten sehen, was sie mit ihren Reparationsforderungen anrichteten. Und auf die Ansprüche ganz verzichten. Außenpolitisch hatte diese Politik des Durchhaltens Erfolg: Mit dem Lausanner Abkommen vom Juli 1932 sollten die Reparation endgültig abgelöst werden. Nur leider war Brüning zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Kanzler, und wenige Monate später erhielt Adolf Hitler dieses Amt. Das hatte Monarchist Brüning nicht gewollt. Kein Vorbild für Schröder.

6. Helmut Schmidt. Streit um die Nachrüstung, Streit um die Wirtschaftspolitik, Streit um den Haushalt – schon am Beginn des Krisenjahres 1982 war die Lage für den SPD-Kanzler düster. Dass Schmidt aufs Durchhalten setzte, rief schon damals einen Kritiker aus dem Saarland auf den Plan. „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit“, schimpfte der Saarbrücker Oberbürgermeister Oskar Lafontaine am 15. Juli im Stern. „Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzise gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ Ein großer Teil der Partei sah es ähnlich, im Oktober musste Schmidt die Regierungsgeschäfte an Helmut Kohl abgeben. Kein Vorbild für Schröder.

7. Helmut Kohl. Schon sieben Jahre später schien es, als seien auch die Tage des Nachfolgers gezählt. Zu Beginn des Jahres 1989 mochte kaum noch jemand darauf wetten, dass der Pfälzer die für Dezember 1990 angesetzte Bundestagswahl gewinnen könnte. Zu sehr war seine bisherige Amtszeit von Skandalen und Missgriffen geprägt, und auch ökonomisch kam das Land nicht voran. Aber Kohl saß die Kritik einfach aus. Er hielt durch, bis etwas geschah, was Friedrichs „Mirakel“ im Siebenjährigen Krieg noch übertraf. Als hätten sich höhere Mächte zur Rettung der Kohl’schen Kanzlerschaft verschworen, brachten sie die Mauer zum Einsturz und bahnten den Weg für die Wiedervereinigung. Noch bevor SPD-Kandidat Oskar Lafontaine das Geschehen so recht begriffen hatte, war Kohl wiedergewählt. Vorbild für Schröder.

8. Roland Koch. Für den hessischen Ministerpräsidenten schien die politische Lage vor rund drei Jahren mindestens so aussichtslos wie heute für Schröder. In der CDU-Spendenaffäre zog sich der Ring immer enger um die Wiesbadener Staatskanzlei. Erst fiel Altkanzler Helmut Kohl in Ungnade, dann musste der hessische Schatzmeister Wittgenstein seinen Posten wegen frei erfundener „jüdischer Vermächtnisse“ räumen, und am Ende nahm sogar Staatskanzleichef Franz Josef Jung eine befristete Auszeit von politischen Spitzenämtern. Nur Koch tat, was er sich bei Kohl abgeschaut hatte: Er ließ die Karawane einfach weiterziehen. Erfolg hatte er damit nicht zuletzt, weil jeder in der hessischen CDU wusste: Bei einem Rücktritt würde die Partei in jene Minderheitenposition zurückfallen, aus der sie sich seit den Siebzigern mit eisernem Durchhaltewillen emporgekämpft hatte. Ganz ähnlich wie Schröder, von dessen politischem Überleben heute das Schicksal der SPD abhängt. Ganz klar: Vorbild für Schröder.