Wissenswertes aus Erlangen

Wie hältst du es mit der deutschen Vergangenheit? In Erlangen ist am Wochenende das Nazistück „Die Wölfe“ aufgeführt worden, Proteste gab es auch. Am Ende blieb unklar, ob sich die Ideologie der NS-Zeit auf der Bühne tatsächlich selbst entlarven kann, wenn sie besonders genau nachvollzogen wird

Das Ausschließen sollte dem politischen Diskurs überlassen werden Auf dem Feld der Kultur aber ist es interessant hinzuschauen

von DIRK KNIPPHALS

Der Hit von Foyer des Arts mit dem Text von Max Goldt fing 1981 so an: „Merken Sie sich eines: / Erlangen liegt nicht im Sauerland. / Hier rechts das neue Schwimmzentrum / zum Schwimmen, Trimmen, Sonnenbaden. / Diese Seite Erlangens ist weitgehend unbekannt.“

Zugegeben: Auf unser Thema passen diese Zeilen zunächst nicht sonderlich gut. Höchstens, dass sie ausdrücken, dass Erlangen eine Stadt wie viele andere auch ist. Außerdem gibt es doch noch eine Stelle (nachlesbar übrigens in Max Goldts Band „Die Radiotrinkerin“), bei der man momentan aufmerkt. Sie lautet: „Hier stehen Vergangenheit und Gegenwart dicht beieinander.“ Das stimmt nämlich.

Nun aber los. Es geht hier um ein Drama, das derzeit in vielen Varianten gegeben wird und dessen Thema sich in etwa umreißen lässt mit den Wörtern: Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit. Viele politische Reporter sind in diesen Tagen in Fulda, wo dieser Martin Hohmann herkommt, der Angela Merkel so viel Probleme machte, unterwegs – das Land der deutschen Tätervolk-Leugner mit dem Laptop suchend. Auf dem Gebiet der Kultur war dafür am Sonntag eben in Erlangen einiges los; man fuhr da also hin, um sich ein Nazistück anzuschauen, das zuvor nur einmal aufgeführt worden war, 1944 in Breslau: Hans Rehbergs „Die Wölfe“. Um die Redlichkeit des Berichts zu wahren, muss man gleich hinzufügen, dass man vorher von dem Stück noch nie gehört hatte und extra einen Zug früher genommen hat, um vor der Premiere noch die angekündigten Proteste in Augenschein zu nehmen.

Wochenlang war diskutiert worden, ob die Stückauswahl nun schrecklich, gerechtfertigt oder zum Teil ziemlich gerissen war. In der aktuellen Ausgabe von Theater heute wird nahe gelegt, die neue Intendantin Sabina Dhein könnte überlegt haben, „wie sie ihre erste Spielzeit möglichst öffentlichkeitswirksam starten kann“. Woher sie das haben? Jedenfalls, dass sich Frau Dhein dabei gegen Widerstände durchzusetzen hatte, stand am Samstag noch einmal zusammenfassend in der Lokalzeitung Erlanger Nachrichten. Von einem „Theaterskandal […], wie ihn Erlangen nur selten erlebt hat“, ist dort die Rede (wobei einem die anderen Theaterskandale Erlangens gerade nicht recht einfallen wollen). Oberbürgermeister Siegfried Balleis (CSU) ist in dem Vorbericht „um das Image der Stadt besorgt“. Grüne Liste und jüdische Organisationen lehnen „eine Aufführung als Nazi-Propaganda grundsätzlich ab“. Dichter beieinander können also Vergangenheit und Gegenwart kaum liegen.

Der Sonntag lief dann in etwa wie folgt ab. Zunächst war man aus dem Zug gestiegen und hatte gedacht: Mann, haben die aber eine gute Luft hier! Dann ist man in Erlangen erst einmal nur auf ganz normale Mittelstadtbetriebsamkeit gestoßen: Menschen beim Bummeln. Irgendwann störte der Nieselregen. Eine gute Stunde vor Vorstellungsbeginn ging es aber los. Etwa siebzig Menschen sammelten sich in dem idyllischen Gässchen, in dem die Garage, der kleine Nebenspielort, liegt. Sie trugen Pappschilder: „Schluss mit dem Nazi-Propagandastück am Theater Erlangen“ oder: „Stoppt die Verharmlosung des Faschismus“. Das Gässchen war eng. Einer, offensichtlich ein Organisator, rief: „Lasst alle Leute rein. Heute sind fast nur Journalisten da. Und die schreiben alle für uns.“ Etwas später wird dann der offene Brief verlesen, den Ralph Giordano an Sabina Dhein geschrieben hat. Den Satz von dem „Akt der Versöhnung mit den Tätern auf dem Rücken der Opfer“ wird man im Gedächtnis behalten, wenn auch nicht bestätigen können. Gegen die selbst gebastelten Pappschilder im Nieselregen wirken Giordanos Worte überaus volltönend. Ein Profi der Empörung inmitten einer Laienschar von Protestlern, denkt man, auch wenn das wahrscheinlich unangebracht ist.

Als man die Karten abholen will, klappt die Datenübertragung in die Computer nicht. Die Karten müssen per Hand geschrieben werden. Offensichtlich, dachte man spätestens da, gibt es hier ein Missverhältnis zwischen dem ganz großen Thema, das Wörter wie Täter, Opfer oder Nazi suggerieren, und dem provinziellen Rahmen, in dem dieses deutsche Drama stattfindet. Die Proportionen stimmten einfach nicht. Alle Beteiligten – Intendantin, Protestierende, später auch Schauspieler und Zuschauer – schienen mit den zugewiesenen Rollen zu fremdeln. Nur die Kamerateams machten einen auf wirklich wichtig. Das tun sie immer, egal ob Nazistück oder Bohlen-Autobiografie.

Dann die Aufführung. Die Garage ist eine schwarz gestrichene Kammerspiel-Höhle. Die Bühne ist eng, da passt ein U-Boot-Drama wie „Die Wölfe“ gut hinein. Zwei Drittel des Stückes spielen aber im Freien, in den Landschaften Schlesiens. Der Heldentod will dialogisch erst vor- (erster Akt), dann nachbereitet sein (dritter Akt). Im zweiten Akt herrscht zunächst Flaute, dann wird ein Geleitzug gesichtet, und während minutenlang der Kommandant an einem Bauchschuss krepiert, macht sein Stellvertreter eine gute Jagd und versenkt ein paar Schiffe. Zwei seiner Kameraden sind auch tot.

Seltsames Stück. Mit Gespensterszenen, tragischer Liebe, sentimentalischen Anwandlungen am Froschteich und Dialogen voller hochgezüchteter Phraseologie. Im Theatercafé hatte man noch schnell von einem versierten Zuschauer eine Privatvorlesung erhalten. Hans Rehberg versuche sich hier, so hatte man erfahren, mit dem Bewusstsein des Ersten Weltkriegs auf den Zweiten Weltkrieg einzulassen. Dieser preußisch umwölkte Offiziers-Talk sei im Grunde untypisch für die Nazizeit, wo eher der einfache Soldat in den Mittelpunkt gestellt wurde. Übrigens sei es möglich, dass Herbert Reinecker, der spätere „Derrick“-Autor, sich bei einem wie Rehberg seine Technik der wie in die Ferne gerichteten Dialoge abgeschaut habe.

Am seltsamsten aber ist die Aufführung selbst. Marc Pommerening, der Regisseur, behandelt das Stück überaus sorgfältig. So gut wie keine Streichungen, viel Einfühlung. Das Dekonstruktionstheater, wie es viele von Pommerenings Generationsgenossen (Jahrgang 1970) derzeit bieten, ist ganz weit weg.

Der andere mögliche Ansatz wäre ja gewesen, eine Auseinandersetzung auf die Bühne zu bringen, mit Phrasen-Entlarvungen, kommentierenden Slapstick-Szenen, hochdrehenden Theorieexkursen. Auch wenn man von solchen Inszenierungen inzwischen ein bisschen genervt ist, hätte man sich so etwas in diesem Fall auch ganz gut vorstellen können. Oder, noch eine Möglichkeit, mit einem forschenden Blick an die Zeit herangehen, wie er in den Büchern dieses Jahres von Autoren wie Stephan Wackwitz („Ein unsichtbares Land“) oder Uwe Timm („Am Beispiel meines Bruders“) angewendet wurde.

In Erlangen hat man sich also für den immanenten Nachvollzug entschieden. Es kommt hier auf die Feinheiten an, bei welcher Szene man denkt, das haben die Schauspieler jetzt aber beinahe archäologisch genau ausgestellt (als ob sie ein altes Fotoalbum vom Dachboden geholt hätten), und bei welcher Szene sie es mit der Einfühlung etwas zu weit treiben. Meistens halten die Schauspieler die Balance ganz gut. Das Zauberwort lautet: Ambivalenz. Der Theaterhistoriker Günther Rühle, der „Die Wölfe“ ausgegraben hat, hat es als ambivalentes Stück bezeichnet. Das ist genau die Erlanger Lesart, zwischen Kriegsverzweiflung und Nicht-aus-den-Vaterlandsdiskursen-Hinausfinden. Nur die Todesszene des Kommandanten spielen sie so eindrücklich, dass man denkt: Wahrscheinlich finden sie auch Antikriegsfilme wie „Platoon“ gut, nur weil da so ausführlich gestorben wird.

Um das andere, das Drama um die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit zu komplettieren, gab es dann im Großen Haus – einer hübsch verkitschten Kleinstaaterei-Repräsentationsbühne – die Podiumsdiskussion. Zunächst mit vielen Versprechern. Gerade wenn man auf jedes Wort achten will, rutscht man besonders gut aus.

Der Vorsitzende des Erlanger Theater-Fördervereins sagte Giordano Bruno statt Ralph Giordano und murmelte ein „Wie mir das passieren konnte, ist mir schleierhaft“ hinterher. Dietmar N. Schmidt, der Moderator, sagte zunächst gedankenhell: „Es wird hier niemand verbrannt“, und verhedderte sich dann auch, als er von Nazi-Richtern anstatt von Nazi-Dichtern sprach.

Dann beruhigten sich die Gemüter wieder, und irgendwann gelang es den Publizisten Friedrich Dieckmann und Jürgen Busche, sich zu streiten und dabei die Kernfrage des Abends herauszuarbeiten. Friedrich Dieckmann bezeichnete das Stück selbst als „Schmarrn“, die „sozusagen holzschnittartige Redlichkeit“ der Aufführung habe ihm aber gefallen. Er verstand sie als Versuch einer jungen Theatertruppe, das „Bewusstsein der Großväter zu rekonstruieren“.

Gegen die Rekonstruktionsbehauptung begehrte Jürgen Busche heftig auf. Mit diesem „Kitsch“ von einem Stück könne man das Bewusstsein der Großväter eben gerade nicht rekonstruieren, an die wirkliche Verzweiflung komme man damit nicht ran. Darauf beharrte Dieckmann, gerade das falsche Bewusstsein der damaligen Zeit könne man dem Stück eben doch ansehen. Diese Differenz blieb in der Diskussion einfach stehen.

Dann ging man für sich Fazit ziehend ins Hotel. Immer noch idyllische Mittelstadt. Immer noch Nieselregen. Was der Abend vielleicht gezeigt hat: dass man das Ausschließen dem politischen Diskurs überlassen sollte. Dass es auf dem Feld der Kultur aber interessant ist, hinzugucken, abzuwägen, im Gespräch mit der Vergangenheit zu bleiben. So banal, wie das klingt, ist das womöglich gar nicht. „Es gibt überall solche und solche“, heißt es bei Max Goldt. Noch was Wissenswertes über Erlangen.