: „Gegen westliche Dominanz“
Der Konfliktforscher Ernst-Otto Czempiel über die Anschläge von Istanbul und den belebenden Effekt des Irakkrieges für den gewaltsamen Kampf gegen den Westen
taz: Herr Czempiel, bedeuten die Anschläge auf jüdische Synagogen in Istanbul eine neue Qualität des Terrorismus?
Ernst-Otto Czempiel: Es ist eine Ausdehnung, aber keine neue Qualität. Attentate dieser Art auf jüdische Einrichtungen sind häufiger vorgekommen.
Aber die Türkei ist doch als Bindeglied zwischen Europa und der islamischen Welt etwas Besonderes.
In der Türkei überlegt man sich, ob diese Attentate der Preis dafür sind, dass man sich prinzipiell bereit erklärt hat, im Irak mit zu intervenieren. Man muss damit rechnen, dass diese Art von bewaffnetem Widerstand, für den sich nun einmal der Begriff „Terrorismus“ eingebürgert hat, als Reaktion auf den amerikanischen Angriff auf den Irak zunehmen wird. Es war von vornherein zu erwarten, dass dieser Angriff den Terrorismus erheblich beleben würde, und das sehen wir vor uns.
„Bewaffneter Widerstand“ trifft besser als „Terrorismus“?
Ich würde zwischen Widerstand und Terrorismus unterscheiden wollen. Selbstverständlich gibt es Terrorismus, etwa die Aum-Sekte in Japan oder der Oklahoma-Bomber. Was in Tschetschenien, Irak oder Palästina passiert, würde ich als Widerstand gegen eine als Besatzung empfundene fremde Macht bezeichnen. Nicht, um es dadurch schönzureden, sondern um genauer zu sein.
Alle sind sich sehr schnell wieder einig gewesen, al-Qaida für die Anschläge in Istanbul verantwortlich zu machen, obwohl die Authentizität der Bekennerschreiben noch nicht geklärt ist. Glauben Sie daran?
Al-Qaida war gleich nach dem 11. September zum Sammelbegriff für ein bestimmtes Phänomen des politischen Terrorismus gemacht worden, und George W. Bush selbst sprach davon, dass es die Gruppe in über 60 Ländern gebe. Da kann man sich vorstellen, dass es nur einen minimalen Grad an Organisation gibt – aber es gibt Gemeinsamkeiten: den Kampf gegen westliche Dominanz ohne Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen. Wenn wir uns darauf verständigen, dass das mit al-Qaida gemeint ist – dann wird es wohl in Istanbul al-Qaida gewesen sein.
Europa hat stets kritisiert, die US-Regierung stütze sich im Kampf gegen Terror zu stark aufs Militärische und vernachlässige die politische Antwort. Gäbe es denn heute eine glaubwürdige und erfolgversprechende europäische Antwort auf den Terror?
Leider nicht. Wir müssen vor allem die Quellen des Terrorismus verstopfen, und die sind: erstens der Nahostkonflikt, zweitens der Nahostkonflikt, drittens der Nahostkonflikt, viertens die westliche Dominanz, die sich auch durch die Ungleichverteilung des durch die Globalisierung erzeugten Reichtums äußert. Wenn der Nahostkonflikt gelöst wäre, wäre dem Terrorismus die wichtigste Quelle genommen, die für 80 Prozent aller Anschläge verantwortlich ist.
In Europa scheinen viele darauf zu setzen, dass es nach einem Machtwechsel im Weißen Haus im nächsten Jahr auch einen außenpolitischen Kurswechsel geben könnte. Ist das denn realistisch?
Ja, sicher. Die Regierung Bush ist eine einmalige Abweichung von der amerikanischen Mitte nach rechts. Wenn Bush durch einen Demokraten abgelöst würde, wäre das vorbei. Es könnte dann etwas passieren, was wir aus der Clinton-Regierung kennen: Durchaus gewaltsame Reaktionen auf Anschläge, aber eben doch der Versuch, die Quellen zu verstopfen – etwa Clintons Versuch einer Lösung für Nahost.
INTERVIEW: BERND PICKERT